Im Licht der Wahrheit
Liegen, lesen, denken. Sie suchen noch die perfekte Sommerlektüre für den Urlaub? Die Redaktion des Philosophie Magazins empfiehlt sechs Bücher für einen philosophischen Sommer.
1 Austreiben
Auf Hegels Philosophenthron in Deutschland gibt es, so schrieb das Yale Journal of Criticism, zwei Anwärter: Niklas Luhmann und Friedrich Kittler. Während Ersterer inzwischen gründlich erforscht und verkultet ist, ist es um Kittler still geworden. Dabei wäre es an der Zeit, den Begründer der Medienwissenschaften neu zu entdecken. Denn wenn die Medien unser Schicksal sind, wonach es spätestens seit der Digitalisierung aussieht, dann ist Kittler unser Lehrer. Im Frühjahr ist ein erster Band der geplanten Werkausgabe erschienen. Es tauchen auf: Sandmann, Freud und Dracula, Wagner und Pink Floyd, die den Geisteswissenschaften den Geist „austreiben“ sollen, um ihn auf technologische Grundlagen zu stellen. (Moritz Rudolph)
Friedrich Kittler
Werkausgabe I.B.4: Zu Lebzeiten Veröffentlichtes. Aufsätze, Artikel, Rezensionen, Miszellen. 1981 – 1983
Merve, 496 S., 28 €
2 Glauben
Dieses Jahr wäre der Filmemacher und Autor Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Die Interviewsammlung zeigt ein Panorama seines bewegten Lebens und Denkens: die Kindheit im ländlichen Friaul, die Faszination für die bäuerlichen und subproletarischen Milieus, die Hassliebe zum zunehmend verkleinbürgerlichten Italien. Ein Leitmotiv zieht sich durch sein Schaffen: der Gegensatz von Bourgeoisie und Volk. Pasolini ist ein unorthodoxer Marxist, der stets Partei ergreift für die Kräfte der Religion und des Unbewussten. Entsprechend verweigert sich sein Denken einer starren Ordnung und besticht durch überraschende Volten und blitzartige Erkenntnisse. (Theresa Schouwink)
Gaetano Biccari (Hg.)
Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse
übers. v. Martin Hallmannsecker u. a.
Wagenbach, 208 S., 22 €
3 Blühen
Können Blumenbeete ein Bollwerk gegen stampfende Totalitarismen sein, gegen den Hagel neoliberaler Zumutungen, gegen den parasitären Egoismus unserer Tage? Dieser Frage geht die Essayistin Rebecca Solnit in ihrem Buch Orwells Rosen nach und beginnt die Suche nach Antworten im Garten des Schriftstellers. Dort nämlich blühen noch heute jene Pflanzen, die George Orwell im Frühling des Jahres 1936 einsetzte. Mit den Händen im Humus und dem Kopf in der politischen Theorie argumentiert Solnit dafür, dass der Widerstand unserer Tage sich zu sehr auf seine Dornen versteift, es jedoch aller Sinne bedarf, wenn auch er seine Gärtner überleben will. (Dominik Erhard)
Rebecca Solnit
Orwells Rosen
übers. v. Michaela Grabinger
Rowohlt, 352 S., 24 €
4 Spazieren
Wer Viktor Schklowski liest, spaziert durch ein Berlin zwischen gestern und heute: Man blickt auf den Zoo, dessen Tiere er so aufmerksam beschreibt, dass man feststellt, bisher allerhand verpasst zu haben; man spürt die Sehnsucht und Einsamkeit, die den ins Exil gezwungenen russischen Schriftsteller vor genau einem Jahrhundert in der Stadt begleitete; und man folgt seinen leichtfüßigen und originellen Beobachtungen – zur Kunstszene und zum Wetter ebenso wie zur Bügelfalte und zum Zauber der Zugkraft. Diese persönlich-urbane Collage entstand in 29 Briefen zwischen Schklowski und seiner Angebeteten, der russisch-französischen Schriftstellerin Elsa Triolet, der er über alles schreiben durfte, nur nichts über Liebe. (Jana Glaese)
Viktor Schklowski
Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise,
Mit einem Nachwort von Marcel Beyer,
übers. v. Olga Radetzkaja
Guggolz, 189 S., 22 €
5 Anschauen
Manche Fotos besitzen eine geheimnisvolle Kraft. Katja Petrowskaja, 1970 geboren in Kiew, spürt ihrem „Punctum“ nach, wie Roland Barthes subtile fotografische Details nennt, die uns in ihren Bann ziehen. Einige Fotos entstammen fremden Sammlungen, andere dem Familienalbum. Auf einem Bild ist eine Frau in Bikini zu sehen, die gelassen an einer Rauchwolke vorbeigeht: Petrowskajas Mutter im Jahr 1964. Eine Frau, „die in ihrem Leben unvorstellbare Strecken zurückgelegt hat“, unermüdlich und unerschrocken, „angezogen von einem Ziel, das für den Betrachter unsichtbar bleibt“. Dieser Band ist eine Feier jener Einzelheiten, die nicht nur Bilder magisch aufladen – sondern auch das Leben selbst. (Svenja Flaßpöhler)
Katja Petrowskaja
Das Foto schaute mich an. Kolumnen
Suhrkamp, 256 S., 25 €
6 Träumen
Der Essay, schreibt Ursula Krechel, ist „Ausschweifung und Engführung zugleich“. Das stimmt zuallererst für ihre eigene Essaysammlung, ganz gleich, ob die Schriftstellerin über Träume in Diktaturen, das Rückwärtsgehen, die Geschichte des Apfels oder historische Ähnlichkeiten zwischen Metro und Psychoanalyse nachdenkt. André Gides Träume tauchen ebenso auf wie Katherine Mansfields Apfelbewunderung oder Rolf Dieter Brinkmanns Interview-Rotzigkeit. Wer diese Essays liest, wandert durch eine fantastische literarische Landschaft – am besten natürlich rückwärts: „Eine ungewohnte Heiterkeit in den Kniekehlen, und etwas lacht innerlich: Gelingt doch.“ (Jutta Person)
Ursula Krechel
Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen. Essays
Jung und Jung, 480 S., 30 €
Weitere Artikel
In der Sonne denken
Gut, schön und wahr: Die Redaktion empfiehlt fünf Bücher für den philosophischen Sommer.

16. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 16. Türchen: Unser Redaktionshund Jimmy rät zu Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp, 411 S., 22 €)

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

17. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 17. Türchen: Unser Kolumnist Wolfram Eilenberger rät zu Das blinde Licht von Benjamín Labatut (Suhrkamp, 187 S., 22 €)

Philosophischer Jahresrückblick
Bald ist das Jahr schon wieder zu Ende. Zeit, noch einmal zurückzuschauen: Wie gut erinnern Sie sich an die sechs Dossiers des Philosophie Magazins?
Benedict Wells - Der Suchende
Mit erst 30 Jahren steht sein vierter Roman kurz vor dem Abschluss. Benedict Wells hat sich als Schriftsteller früh gefunden. Gerade deshalb dominieren in seinen Büchern Suchende. Der Held des Bestsellers „Fast genial“ fahndet nach seinem Vater und „Becks letzter Sommer“ beschreibt einen turbulenten Roadtrip.
6. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 6. Türchen: eine Überraschung.
Wir verlosen 3x ein Jahresabo Plus. Darin enthalten sind alle 6 regulären Ausgaben, 3 Sonderausgaben sowie der Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten.
Zur Teilnahme schicken Sie einfach eine Mail mit dem Betreff „Advent“ an gewinnspiel@philomag.de
Die Gewinnerinnen und Gewinner werden bis zum 10.12.2020 per Mail benachrichtigt.
Viel Glück und einen schönen zweiten Advent!

Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.