Kann uns die Wissenschaft retten?
Ob Covid- oder Klimakrise: Die Wissenschaften sind heute zentraler Bezugspunkt des politischen Handelns. Thea Dorn, Bernd Stegemann und Juli Zeh diskutieren die kantische Frage „Was kann ich wissen?“ neu und fragen nach dem richtigen Umgang mit Ungewissheit.
Philosophie Magazin: Warum spielt die Wissenschaft in heutigen Krisen eine so bedeutende Rolle und wie ist das zu bewerten?
Juli Zeh: Wir leben gewiss in einer Zeit, in der Wissenschaft eine größere Rolle spielt, als wir es die letzten Jahre gewohnt waren. Das liegt schlicht daran, dass die Fragen, mit denen wir in der Corona- und der Klimadebatte zu tun haben, sachlich in die Naturwissenschaften hineinragen. Da ist es ganz logisch, dass man die entsprechende Expertise einbezieht. Es kommt aber noch etwas hinzu: Im politischen Raum ist eine große Unsicherheit entstanden, die aus meiner Sicht viel länger zurückreicht als die Corona- und Klimakrise. Ich würde sie als eine Störung der Vertrauensbeziehung zwischen Bürgern und Politik beschreiben. Der Glaube an die Fähigkeit von Demokratien, anstehende Probleme effektiv, effizient und bestmöglich zu lösen, ist gesunken. Ich glaube, das führt dazu, dass man sich nach anderen Orientierungspunkten sehnt, die einem Gewissheit geben können.
Bernd Stegemann: Es ist eine irritierende Dialektik, dass die Wissenschaft der neue absolute Wert in der politischen Entscheidung sein soll. Denn es war gerade der methodische Zweifel der Wissenschaften, der zu konsistenten, aber immer nur vorläufigen Ergebnissen geführt hat. Das Ziel war und ist, durch kritisches Hinterfragen jegliche Art von Wahrheit infrage zu stellen: „Seid euch mal nicht zu sicher!“ In der Postmoderne sind wir dann noch einen Schritt weitergegangen, indem man die Relativierung der Wahrheiten nochmals weiter radikalisiert hat: Niemand soll sich seines Geschlechts, seiner Nation oder Religion sicher sein. Nachdem wir alles triumphal infrage gestellt haben, breitet sich jetzt eine Art Verlorenheit oder Vertrauensverlust aus. Wir fragen uns, ob wir überhaupt noch etwas begreifen können. Gleichzeitig gibt es auf der ökonomischen Ebene immer mehr Unsicherheiten. Das Subjekt wird in einen Zangengriff genommen und stellt fest: Ich bin doppelt prekär. Ich weiß gar nicht richtig, was wahr und falsch ist, und ich lebe in prekären Verhältnissen. Die neue Einsicht ist: Unsicherheit muss man sich leisten können. Und zugleich erwächst eine Sehnsucht nach dem Absoluten: Meinungen werden durch Moral wieder unangreifbar gemacht und die Wissenschaft soll als neues Glaubensfundament unhinterfragbare Wahrheiten verkörpern. Diese Refundamentalisierungen sind eine schwere Herausforderung für die Aufklärung und die Demokratie.
Thea Dorn: Erst mal müssen wir uns klarmachen, dass wir in einer Welt leben, die zusammenbrechen würde, würden wir ernsthaft aufhören, an die Erkenntniskraft der Wissenschaft zu glauben. Unser gesamtes Leben hängt am Tropf der Hochtechnologie. In unserem Alltagsverhalten sind wir ständig – zumindest implizit – davon überzeugt, dass ein Auto funktioniert, wie es funktioniert; dass ein Smartphone funktioniert, wie es funktioniert. Unsere fabelhaften Geräte und Infrastrukturen haben allesamt einen naturwissenschaftlich fundierten Kern, den wir – aus guten Gründen – nicht permanent infrage stellen. Es gibt also eine grundsätzliche Wissenschaftsgläubigkeit, die wir brauchen, um uns in unserer hochtechnologisierten Welt überhaupt bewegen zu können.
Philosophie Magazin: Aber?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Was heißt es, links zu sein?
Die Zerwürfnisse zwischen linken Lagern nehmen zu. Kämpfen sie noch für dieselbe Sache? Oder offenbaren sich hier unüberbrückbare Differenzen? Die Politikerin Sahra Wagenknecht und die Schriftstellerin Juli Zeh diskutieren über die Versäumnisse linker Politik, echte und künstliche Gegensätze und den richtigen Umgang mit rechts.

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Reinhard Merkel: „Wir sollten darüber nachdenken, Kinder und Jugendliche vor den Alten zu immunisieren“
Die baldige Verfügbarkeit von Covid-19-Impfstoffen wirft moralische Fragen auf: Wer kommt zuerst dran? Bis wohin reicht die körperliche Selbstbestimmung? Ist es auch legitim, sich nicht impfen zu lassen? In unserer Reihe fragen wir Philosophinnen und Philosophen nach ihrer Position. In Folge 4 plädiert der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel dafür, die Kantische Vernunft in der Impffrage als Leitstab zu nutzen und über die Frage der Priorisierung neu nachzudenken.

Thea Dorn: „Todesvermeidung um jeden Preis bringt uns in eine existenzielle Aporie“
Der Schutz des Lebens ist das Kernelement der Zivilisation. Aber sind wir gerade dabei, aus lauter Todesangst das Leben selbst zu opfern? Ein Interview mit Thea Dorn über ihr am 8. Februar erschienenes Buch Trost und einen Konflikt, in dem wir alle stecken.

Thea Dorn: "Die deutsche Kultur ist ein Netz aus Ähnlichkeiten"
Thea Dorn differenziert, wo andere sich nicht trauen. In ihrem neuen Buch „Über Deutschland“ fragt sie, wie sich das Spezifische der deutschen Kultur ohne Blut-und-Boden-Ideologie denken lässt. Ein Gespräch mit einer der streitbarsten Intellektuellen unserer Zeit
Bernd Ladwig: „Tiere als leidensfähige Kreaturen sitzen mit uns in einem Boot“
Jeden Tag werden Tiere millionenfach getötet oder zu wissenschaftlichen Zwecken gequält, während das Foltern von Menschen verboten ist. Ein Fall moralischer Willkür, behauptet Bernd Ladwig und fordert individuell wie politisch radikales Umdenken.
