Kintsugi: Der schöne Verschleiß
In der westlichen Tradition ist Schönheit meist mit Vollkommenheit verbunden. Anders in der japanischen Kunst des Kintsugi: Hier ist es gerade die Ausstellung der Abnutzung, die als wertvoll firmiert. Über ein ästhetisches Konzept, von dem sich lernen ließe.
Womöglich ist Ihnen auch schon einmal Ihre Lieblingstasse heruntergefallen. Bedrückt haben Sie die Scherben zusammengekehrt und in den Müll geworfen. Dabei hätten Sie das gute Stück auch noch behalten und im Stil der japanischen Kunst des Kintsugi reparieren können. Doch was, könnte man nun fragen, wäre der Sinn eines solch verzweifelten Unterfangens? Immerhin könnte man die Risse auch weiterhin sehen und so gut man auch kleben würde, das Objekt wäre ja doch nicht mehr dasselbe.
Stimmt, würden die Meister des Kintsugi sagen, und genau darum geht es. Kintsugi nämlich ist jene japanische Reparaturtechnik, die zerbrochenes Porzellan und Keramik mit einem bestimmten Kleber und Goldpulver so wieder zusammenfügt, dass die Stellen, die vom Missgeschick zeugen, nicht etwa unsichtbar werden, sondern für alle erkennbar hervortreten. Denn dieser Reparaturtechnik liegt ein eigenes ästhetisches Bewusstsein zugrunde.
Elegante Reparatur
Was wäre, wenn wir aufhören würden, reparierte und teils defizitäre Objekte mit Geringschätzung zu betrachten und es vielmehr wie jene japanischen Handwerker hielten, die Kintsugi praktizieren? Was wäre also, wenn wir uns weigerten, die Risse zu verstecken, ja mehr noch, wenn wir sie vielmehr noch extra golden akzentuieren würden? Aus der Perspektive dieser japanischen Handwerkstradition wären es gerade diese goldenen Linien, die wie Adern durch das Porzellan verlaufen, die dem Objekt seinen einzigartigen Charme verleihen.
Die Technik des Kintsugi soll Ende des 15. Jahrhunderts zu Lebzeiten des Shōguns Ashikaga Yoshimasa entstanden sein, der auch ein großer Liebhaber der Teekunst (Chadô) war. Die Legende besagt, dass der Herrscher seine Lieblingsschüssel zerbrach und sie zur Reparatur nach China schickte. Das Ergebnis allerdings entsprach nicht seien Erwartungen, da die Schale mit Metallklammern zusammengehalten wurde, die dem Objekt sowohl seine Funktionalität wie auch seine Schönheit nahmen. So beauftragte Ashikaga Yoshimasa seine japanischen Handwerker, um eine bessere Lösung zu finden, was diese dazu veranlasst haben soll, eine wesentlich elegantere Methode der Reparatur zu erfinden – Kintsugi. Auch wenn diese Entstehungsgeschichte nicht als gesichert gelten kann, ist klar, dass Kintsugi in Anlehnung an das ästhetisch-philosophische Ideal des Wabi-Sabi entstanden ist.
Wabi: Die Schönheit der Unvollkommenheit
Der erste Teil des Konzepts Wabi-Sabi bezeichnet das Ideal einer unvollkommenen, unregelmäßigen Schönheit. Murata Shukō, der Begründer der japanischen Teezeremonie (chanoyu) bemerkte, dass der Mond am schönsten sei, wenn er teilweise von Wolken verdeckt wäre. Er sei dann eleganter als der Vollmond, der strahlend und rund von einem klaren Nachthimmel scheint. Vollständigkeit, Asymmetrie und Reinheit. All das wären keine Voraussetzungen für Schönheit, meinte Shukō. Die griechisch-römische Tradition allerdings hat genau diese Vorstellung jedoch tief in der westlichen Tradition verankert. Schönheitskonzepte folgen in unseren Breiten meist dem apollinischen Prinzip der Abgeschlossenheit und vollendeten Form.
Murata Shukō jedoch vertritt die genau gegenteilige Auffassung: Ein solch vollendetes Werk ist ästhetisch weniger gehaltvoll, weil es alles, was es zu bieten hat, bereits im ersten Augenblick preisgibt. Es verschenkt sich in der ersten Sekunde. Das unvollkommene Werk hingegen ist das Versprechen einer Möglichkeit, von etwas, das entdeckt werden kann. Was sich noch nicht vollständig zu erkennen gegeben hat, so könnte man sagen, kann noch alles werden und eröffnet Räume der Fantasie. Wenn der Kintsugi-Handwerker also eine zerbrochene Schale repariert, erhebt er niemals den Anspruch, ihre Unversehrtheit wiederherzustellen. Die durch das Goldpulver vergrößerten Risse sind das Zeichen eines Mangels, eines Fehlers, und genau das ist es, worauf er sein Augenmerk legt.
Sabi: Einzigartigkeit durch Verschleiß
Der zweite Teil des Wabi-Sabi-Konzepts besteht in der Auffassung, dass gerade die Abnutzung und der Verschleiß einen Gegenstand einzigartig machen. Aus diesem Grund hat ein Handwerker, der sich dem Kintsugi verschreibt, auch keine Angst vor dem Verfall. Für ihn sind Kratzer und Sprünge keine Bedrohung für ein Objekt, sondern vielmehr wertvolle Zeichen der Zeit und damit auch jener Kraft, die seine Einzigartigkeit hervorbringt. Denn eigentlich zeigt sich erst in der (Ab-)Nutzung der Dinge ihr wahrer Charakter.
Doch nicht nur lässt sich Kintsugi auf die Idee des Wabi-Sabi zurückführen, auch dieses hat wiederum Wurzeln in der japanischen Kultur des Zen-Buddhismus, der sich über Jahrtausende entlang von künstlerischen Disziplinen wie der Teezeremonie, dem Theater und der Poesie entwickelt hat. So wird deutlich, dass Kintsugi, Wabi-Sabi und der Zen-Buddhismus eine gemeinsame Auffassung von Ästhetik teilen: Die Idee nämlich, dass sich Schönheit nicht in der Vollendung findet und auf ewig konservieren lässt, sondern sie gerade in der Veränderung liegt und flüchtig ist. Die Jagd nach Perfektion kann also niemals gelingen und führt uns mehr von der Schönheit der Welt weg, als dass sie uns ihr näherbringt. •