Per Leo: „Das Risiko zwingt uns zum Denken“
Wie hat der bald einjährige Krieg in der Ukraine das eigene Leben und Denken beeinflusst? In dem Historiker und Publizisten Per Leo verstärkte sich der Wille, die eigene politische Meinung geschichtlich informiert und begriffsgeleitet zu schärfen.
Der Krieg in der Ukraine traf mich mit der Wucht eines unerwarteten Ereignisses, das zu fern war, um einen Schock auszulösen, aber zu nah, um die Ruhe zu bewahren. Vom ersten Tag an löste es neben Sorge auch Enthusiasmus aus, ein brennendes Interesse, das Geschehen zu begreifen. Diese nach Aufklärung strebende Unruhe ist bis heute nicht abgeklungen. Sie findet Ausdruck in zwei Aktivitäten, die ununterbrochen mit den Pflichten des Alltags konkurrieren: exzessiver Lektüre und leidenschaftlichem Streit. Schon am 25. Februar abonnierte ich Foreign Affairs, das Leitmedium des außenpolitischen Diskurses in den USA, und kurz darauf auch die digitale Ausgabe des Spiegel, eines deutschen Nachrichteneintopfs mit oft erstaunlich schmackhafter Experteneinlage. Ich las die Internet-Bulletins von Tom Cooper, einem österreichischen Militär-Nerd, der monographische Bändchen über praktisch alle Kriege des 20. Jahrhunderts verfasst hat und nun mit geheimdienstlicher Akkuratesse – und in druckreifem Englisch! – das Dunkel des frühen Kriegsgeschehens erhellte.
Ich rekapitulierte die Theoretiker der Strategie, die mir vor ein paar Jahren so hilfreich bei der Auseinandersetzung mit AfD und Neuer Rechter gewesen waren: Sunzi, Basil Liddell Hart, Thomas C. Schelling, Mao, Helmut Schmidt. Ich entdeckte zwei Meister des politischen Denkens, die mir damals kaum geholfen hatten, als echte, also unverzichtbare, Klassiker noch einmal ganz neu: Clausewitz und Carl Schmitt. Ich verschlang dutzende Bücher zur Geschichte Mittelosteuropas in der Weltkriegsepoche, den Jahrzehnten zwischen imperialem Zerfall und Kalten Krieg, in denen das bis heute ungelöste Ordnungsproblem nordwestlich des Schwarzen Meeres entstand; zur US-Außenpolitik, vor allem im Hinblick auf die präzedenzlose Vermengung von Verfassungs- und Hegemoniefrage; über die amerikanischen Jahrhundertdiplomaten George Kennan und Richard Holbrooke; über die Kolonialkriege und anti-imperialen Nationalbewegungen im Nahen Osten, in Indochina und Lateinamerika. Und ich justierte die Pfade meiner Geselligkeit sowie die Algorithmen meiner sozialen Medien neu, indem ich bevorzugt mit Leuten interagierte, die sich, gleich welcher Meinung, ebenso obsessiv für die politische Lage interessierten und bereit waren, mit mir hart in der Sache, aber verbindlich im Ton zu diskutieren.
Im Rückblick stelle ich fest, dass sich seit dem 24. Februar 2022 ein Begehren, das mich 2014 erfasste, als im Frühjahr der Maidan blühte und im Herbst Pegida spazierte, auf dramatische Weise verstärkt hat, nämlich der Wille, sich historisch informiert und begriffsgeleitet eine politische Meinung zu bilden, um sie dann in der argumentativen Auseinandersetzung zu schärfen. Nie zuvor kam mir die eigene Lage aufklärungsbedürftiger und die Gegenwart geschichtsträchtiger vor als in dieser noch immer andauernden Zeit. Die Gefahr, so lautet die ermutigende Erkenntnis des letzten Jahres, drängt uns zum Handeln – aber das Risiko zwingt uns zum Denken. •
Per Leo wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Roman „Flut und Boden“ (Klett-Cotta, 2014) stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Zuletzt erschien von ihm „Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur“ (Klett-Cotta, 2021).
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