Lesetipps für den Frühling
Sie brauchen neuen Lesestoff? Wir stellen Ihnen sieben philosophische Neuerscheinungen in Kurzrezensionen vor. Es geht unter anderem um Ekstase, Michel de Montaigne und den Kapitalismus.
Melancholia
„Sie ist so banal wie romantisch, so alltäglich wie (meta)physisch und so abstrakt wie spürbar schmerzhaft zugleich“: In ihren Gedankenspielen über die Sehnsucht umkreist Felicitas Hoppe ein Gefühl, oder besser: eine Krankheit, die vom Aufschub lebt. Die Sehnsucht gleicht damit einem „unersättlichen Drachen“, der immer hungriger wird, je mehr man ihn füttert. Vielleicht am philosophischsten wird sie als Melancholia, die in die Ferne starrt (aber sitzen bleibt). Blaue Blumen, bessere Welten, Tarnkappen oder Containerschiffe: Dieser Essay steckt voller Bilder, die man sich als Tattoo stechen lassen möchte. Zumindest theoretisch.
Felicitas Hoppe: Gedankenspiele über die Sehnsucht, Droschl, 48 S., 10 €
Tierethik
Das meiste Leid von Tieren entsteht heute nicht durch böswillige Quälerei, sondern durch Unwissenheit und Fahrlässigkeit. Selbst Menschen, die bewusst auf Fleisch verzichten, benutzen Plastikartikel, die als Müll im Meer und schließlich im Bauch von Walen landen, die mit verstopften Mägen verhungern. Alle Lebensräume von Tieren sind derzeit von Menschen dominiert: Der daraus entstehenden kollektiven Verantwortung nimmt sich Martha Nussbaum an. In ihrem neuen Buch Gerechtigkeit für Tiere erweitert die amerikanische Philosophin ihren ethischen „Fähigkeitenansatz“, der jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglichen soll. In einer artenübergreifenden Gesellschaft sind auch Tiere als aktive Bürger in die Gestaltung des Zusammenlebens einbezogen. Kants kategorischen Imperativ überträgt Nussbaum auf Tiere: Die Würde aller Lebewesen beruht darauf, nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck zu sein. Dieses moralische Prinzip sei jedoch keine menschliche Kulturleistung, sondern entspringe der selbstbejahenden Natur des Lebens. Denn mehr noch als an Kant orientiert sie sich an Aristoteles’ Verständnis von Tieren als teleologischen, auf Selbsterhalt gerichteten Systemen.
Unrecht ist demnach, Tiere daran zu hindern, nach den für ihre Lebensform typischen Zielen zu streben. Nussbaums Plädoyer umfasst allerdings nur Säugetiere, Vögel, Reptilien, Kopffüßer sowie die meisten Fische, denn sie seien Individuen, die Emotionen wie Angst oder Freude empfinden. Sie hätten eine subjektive Weltsicht, was für ihr Wohlbefinden bedeutsam ist, und könnten sich aktiv darauf zubewegen. Ausgeschlossen sind Knorpelfische wie Haie, die meisten Insekten, Korallen und Schwämme, denn Nussbaum nimmt an, dass diese Tiere lediglich über feste Reiz-Reaktions-Muster verfügen (wobei sie einräumt, dass sich diese Grenze durch neue Forschungserkenntnisse verschieben könne). Verdienst ihres Buches ist es, das Thema Tierrechte im akademischen Diskurs prominent zu verankern – und praktische Vorschläge zu machen, wie Menschen ihrer Verantwortung gerechter werden können.
Martha Nussbaum: Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung, Übers. v. Manfred Weltecke, wbg Theiss, 416 S., 35 €
Kinderbuch
Ohne Kategorien träte das Denken auf der Stelle. Erst indem wir die Unterschiede der Dinge erfassen, kommt das Denken in Fluss. So schärft die Abstraktion unsere Wahrnehmung für das Besondere. Der Engländer Neil Packer erzählt in seinem Bilderbuch von Arvo, einem Jungen, mit dem wir an einem Tag die Vielfalt der Welt entdecken lernen. Ob Arvo mit seiner Katze spricht, einen Apfel isst, in die Stadt fährt oder Musik macht, hinter jedem Ding öffnet sich eine Unzahl von Varianten. Seitenweise präsentiert das Buch Apfelsorten, Musikinstrumente, Tiere oder Fahrzeuge und gibt uns eine Ahnung von der Komplexität der Welt. Neben der Lust an den Gegenständen beschenkt Packer seine Leserschaft mit dem Hinweis, dass alles, was existiert, eine Herkunft besitzt, die es in etwas Wertvolles verwandelt.
Neil Packer: (K)eins wie das Andere. Vom Ordnen und Sortieren, Übers. v. Leena Flegler, Gerstenberg, 48 S., 25 €
Kosmologie
„Wir verunglimpfen die antiken Autoritäten nicht, wenn wir klug neue Forschungen propagieren“, vermerkt Sir Thomas Browne (1605–1682) in einer Notiz über „Die Suche nach Wahrheit“. Wie in einer unendlichen Kettenreaktion scheint das Wissen im Kopf dieses frühneuzeitlichen Universalgelehrten zu explodieren: In seinen überquellenden Werken untersucht er den Kosmos, inklusive Krötensteinen, Mumien, Träumen, Pflanzensamen und Schneelandschaften. Vor allem aber ist dieser Prachtband selbst ein barockes Labyrinth, kurz: ein Monstrum, das nur darauf wartet, von der Kette einer allzu strengen Systematik gelassen zu werden. Browne, das heißt auch: das Wissen befreien.
Sir Thomas Browne: Der Garten des Cyrus. Wesentliche Werke, Übers. v. Manfred Pfister, Matthes & Seitz, 575 S., 78 €
Die Schlange der Ewigkeit
Der Ouroboros ist eine mythologische Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Für die amerikanische Philosophin Nancy Fraser dient sie als Symbol eines sich selbst verzehrenden Kapitalismus, der beständig seine eigenen Grundlagen verschlingt. Fraser gilt als eine der bedeutendsten Stimmen der Kritischen Theorie, die sie mit anderen emanzipatorischen Strömungen wie dem Feminismus zusammenbringt. Auch in ihrem neuen Buch analysiert Fraser den Kapitalismus als ein Phänomen, das weit mehr als die ökonomischen Zusammenhänge umfasst. So wie Karl Marx die Ausbeutung der Arbeiter als die „verborgene Stätte der Produktion“ aufdeckte, gilt es nun, die nichtökonomische Basis des Kapitalismus zu benennen: die Enteignung rassifizierter Gruppen, den Raubbau an den natürlichen Ressourcen, die Aushöhlung der sozialen Sorgearbeit und der politischen Institutionen, die gleichzeitig das Funktionieren der Marktwirtschaft erst ermöglichen. Wie der Ouroboros zehrt der Kapitalismus in einem kannibalischen Akt von diesen Grundlagen. Die Folge sind die vielgestaltigen Krisen der Gegenwart: Pflegekrise, Demokratiekrise, Klimakrise. Fraser zeigt, dass sie aufs Engste miteinander verwoben sind und sich nicht einzeln bekämpfen lassen. Es ist ein verlockender Gedanke: In einer Zeit, in der so oft von „Spaltung“ die Rede ist, alle emanzipatorischen Strömungen unter dem gemeinsamen Dach der Kapitalismuskritik zusammenzubringen. Die Frage ist nur, ob und wie sie sich vereinen lassen. Kann ein neues Konzept des Sozialismus diesen Kraftakt leisten und gleichzeitig das Schreckgespenst des „real existierenden Sozialismus“ vertreiben? Wie kann verhindert werden, dass der Kapitalismus wieder einmal gestärkt aus den selbst verschuldeten Krisen hervorgeht? Denn was die Philosophin unerwähnt lässt: Der Ouroboros wird auch „Schlange der Ewigkeit“ genannt. Doch Fraser geht es nicht in erster Linie darum, Fragen zu beantworten, sie will zunächst die „Basis schaffen, dass wir sie stellen können“. Das ist ihr gelungen.
Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Übers. v. Andreas Wirthensohn, Suhrkamp, 250 S., 20 €
Außer sich sein
Wenn sie über die Ekstase sinnieren, wissen Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter, wovon sie reden. Schon als Kinder haben sich die Autoren für „die andere Seite“ interessiert. Erst kam Frau Holle: Die Seitenwechslerin Goldmarie springt in den Brunnen, landet aber auf einer Blumenwiese. Und in der Schule praktizierten beide das nicht ungefährliche „Wegdrücken“: Man hyperventiliert und verabschiedet sich für kurze Zeit in die Bewusstlosigkeit. Später gingen sie in Technoclubs und nutzten Substanzen, um sich in Ekstase zu versetzen. Eine der beliebtesten Drogen der Raver, MDMA, trägt sie schon im Namen: Ecstasy. Die Autoren schlagen einen großen Bogen von der frühgeschichtlichen Entgrenzung durch Rituale, Tanz und Drogen bis in die Gegenwart. Techniken der Ekstase sind seit einigen Jahren im gesellschaftlichen Mainstream angekommen. Heute dienen sie, wie Hanske und Sarreiter festhalten, oft nicht mehr dazu, Verbindung mit der jenseitigen Welt der Geister und Götter aufzunehmen – wie in den dionysischen Kulten, bei den Praktiken nichteuropäischer Kulturen oder in der christlichen Tradition. Momente der Entgrenzung werden auch nicht mehr angestrebt, um den Kommandos des Ichs und der Tyrannei der Zukunft zu entkommen – das hatten Denker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Georges Bataille oder Arnold Gehlen als letztes Refugium vor den Zumutungen der Zivilisation empfohlen.
Heute komme der Wunsch, sich in der Gegenwärtigkeit zu verlieren, ohne sozialen Kontext aus. Ekstase werde entritualisiert und diene, wie die Autoren kritisieren, vor allem der neoliberalen Optimierung des Selbst: Wo aus der buddhistischen raxis noch eine Verantwortung für die anderen und die Natur erwachse, gehe es den Hohepriestern der Achtsamkeit oft nur darum, ihrer Kundschaft dabei zu helfen, möglichst ungerührt die Herausforderungen der Spätmoderne zu meistern. Mit Ekstase, die sie für existenziell halten, hat das für Hanske und Sarreiter nur noch wenig zu tun. Sie meinen: Jeder Mensch habe ein Recht darauf, außer sich zu sein.
Paul-Philipp Hanske, Benedikt Sarreiter: Ekstasen der Gegenwart. Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie, Matthes & Seitz, 351 S., 28 €
Friedensdenker
Wer so gewandt und faszinierend über die Freundschaft, den Müßiggang, die Menschenfresser, das Schlafen, Reiten oder Trinken schreiben kann – dem droht ewiger Ruhm als Aphorismenschleuder. Michel de Montaigne (1533–1592) wurde mit seinen Essais unsterblich, aber seine glanzvollen Denkmanöver, die zugleich eine neue Gattung begründeten, werden oft ohne den historischen Kontext gelesen. Damit räumt Volker Reinhardts so gründliche wie lesbare Biografie endlich auf: Der Historiker beleuchtet den „fremden“ Montaigne des 16. Jahrhunderts ebenso wie den Rom-Reisenden, den Königsberater oder den unermüdlichen Streiter für Toleranz und Empathie, der im grausamen Glaubenskrieg seiner Zeit vermitteln wollte. Den eigenen Tod dachte er voraus, „um ihm die Bitternis zu nehmen“. Deshalb, nur ausnahmsweise, ein Aphorismus: „Philosophieren heißt sterben lernen.“
Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges, C. H. Beck, 330 S., 29,90 €