Menschheit im Ruhestand
Die Antiwork-Bewegung fordert Arbeitslosigkeit für alle. Das ist revolutionärer als so mancher Revolutionsversuch und versetzt das Establishment in Aufregung.
Die USA werden derzeit von einer Kündigungswelle erfasst. Zwischen Juli und November haben mehr als 20 Millionen Beschäftigte ihren Job aufgegeben, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Begleitet wird The Great Resignation, wie manche es nennen, von einer Bewegung, die sich im Netz formiert. Im rasant wachsenden Reddit-Forum Antiwork berichten Arbeitsmüde aus der Jobhölle und rufen zum Hinschmeißen auf. Die Pandemie wird daran nicht ganz unschuldig sein – Jobunsicherheit, Einsamkeit und Dauerverfügbarkeit im Homeoffice haben der Bewegung Zulauf verschafft. Interessanterweise passiert in China etwas Ähnliches: Seit einigen Monaten lassen sich erschöpfte Instagramer beim Nichtstun fotografieren (#lying flat) – und werden zensiert, weil die Staatsführung Ordnung und Wachstum in Gefahr sieht. In ihrer Sorge um die Produktivität ähneln sich die Kommunistische Partei und Fox News, das Antiwork jüngst als Angriff auf „Corporate America“ bezeichnete – vielleicht nicht zu Unrecht.
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Familie - Zuflucht oder Zumutung?
Der Herd ist noch an. Es fehlen einige Gabeln sowie Tante Barbara, die wieder „im Stau“ steckt. Egal. Anfangen, „bevor das Essen kalt wird“, mahnt meine Mutter wie jedes Jahr. Vor allem aber: „Langsam essen!“ Vater hat derweil schon den zweiten Bissen im Mund. Der Neffe spielt unter der Tischplatte auf seinem Smartphone. Meine Schwester versetzt ihm dezent einen Tritt. Der Schwager zischt: „Lass ihn doch einfach!“ Dass die Flüchtlingskrise als Thema tabu ist, hatten wir im Vorfeld per Rundmail zwar ausdrücklich vereinbart, aber was interessiert das schon Onkel Ernst? Denn erstens hat er kein Internet und zweitens kein anderes Thema. Ein verzweifelter Blick auf die Uhr. Und zur Gattin. Noch 22 Stunden und 34 Minuten, bis der Zug zurück nach Hause fährt. Durchhalten. Frieden wahren. Schließlich ist heute Weihnachten. Und das hier meine Familie.
Sylt als Schwellenland
Die Aufregung um die Punks auf der Reichen-Insel Sylt führt vor Augen, was meist unsichtbar bleibt: Die Disziplinierung von Individuen durch ihre räumliche Verteilung. Das durch die Punk-Migration entstandene Chaos kann man als „Hölle auf Erden“ verstehen – oder als Vorschein einer neuen Utopie.

Brauchen wir Eliten?
Elite. Das klingt überheblich. Nach Privilegien, Ungerechtigkeit, Bevormundung. In Krisenzeiten spitzt sich dieser Argwohn oft zu. Im Moment erleben wir eine solche Zeit. Globale Migration, soziale Ungleichheit, die Folgen der Digitalisierung: Der Druck aufs Establishment wächst. Populisten sind auf dem Vormarsch. Die Demokratie ist in Gefahr. Was also tun? Müssen Eliten sich neu erfinden, um den Spalt zwischen „uns“ und „denen da oben“ zu überwinden? Wenn ja, wie? Oder liegt das Problem viel tiefer – nämlich im Konzept der Elite selbst, das Menschen Führung verordnet? Trauen wir uns, bis an die Basis dessen zu gehen, was für uns lange selbstverständlich war.
Bin ich, was ich esse?
Mensch sein heißt, vom Baum der Erkenntnis gekostet zu haben. Mehr denn je steht die Essenswahl heute unter gesellschaftlichem Druck. Selbst gewählte Nahrungstabus bilden das Zentrum unserer Identität, ersetzen zunehmend religiöse und auch politische Bekenntnisse. Die damit verbundenen Haltungen pendeln zwischen lebensfroher Heilserwartung und genussferner Hypersensibilität, revolutionärer Energie und Angst vor staatlicher Überregulierung. Ist gutes Essen wirklich immer gesund? Gibt es überhaupt natürlichen Genuss? Und wenn ja, weist er wirklich den Weg zu globalen Lösungen? Oft, schrieb einst Friedrich Nietzsche, entscheidet ein „einziger Bissen Nahrung, ob wir mit einem hohlen Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen“. Hatte er recht?
Joseph Vogl: „Informationen über Geld sind wichtiger als Geld selbst geworden“
Es schien wie ein revolutionärer Börsen-Flashmob: Über soziale Medien hatten sich jüngst unzählige Kleinanleger organisiert, um Aktien des Computerspielhändlers GameStop zu kaufen, auch weil Hedgefonds auf deren Verfall gewettet hatten. Letztere verloren dadurch Milliarden Dollar. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl erklärt, warum daran nichts Subversives ist, was der Fall über den Finanzkapitalismus verrät und wieso die Fusion von Kapital- und Meinungsmärkten eine neue Machtform erzeugt.

Eva Illouz: „Ressentiment ist nicht nur ein Gefühl der Schwachen und Beherrschten“
In ihrem jüngst erschienen Buch Undemokratische Emotionen zeigt die Soziologin Eva Illouz, wie politische Bewegungen sich unsere Gefühle zunutze machen. Im Interview spricht sie über die Muster affektiver Politik und den Aufstieg des populistischen Nationalismus in ihrem Heimatland Israel.

Ludger Schwarte: „Farbe ist immer anarchisch“
Lange Zeit wurde die Farbe in der Philosophiegeschichte ausgeklammert. Ein Unding, wie Ludger Schwarte in seinem neuen Buch Denken in Farbe erläutert. Schließlich eignen wir uns die Welt nicht nur durch Farben an, sondern sie besitzen auch ein subversives Potenzial.

Das vermeintlich Gute, das Böses schafft
Was, wenn sich das Böse gar nicht immer selbst als Böses versteht, sondern oft selbst sogar als Gutes missversteht? Gerade bösester politischer Fanatismus hält sich gern für die Rettung der Menschheit. Umgekehrt beruht unser Wirtschaftsliberalismus auf der im 18. Jahrhundert entwickelten Idee, dass durch die entfesselte Konkurrenz im freien Markt aus lauter individuell schlechten Absichten ein gesamthaftes Gutes macht.
