Michaël Devaux: „Gutes zu wollen, ist die gefährlichste List des Bösen“
Tolkiens Erzählungen handeln vom Kampf gegen dunkle Kräfte und Tyrannen. Doch lässt sich das Böse je besiegen? Welche Macht hat es über uns? Mit Michaël Devaux sprachen wir über das Verhältnis zwischen Gut und Böse und eine nie endende Versuchung.
Die Geschichte der Welt ist die Geschichte des „langsamen Erliegens“ gegenüber dem Bösen, schreibt Tolkien. Wie verstehen Sie diesen Pessimismus?
Die Vorstellung einer ständigen Versuchung des Bösen – sowohl in der Schöpfungsgeschichte als auch in der fiktiven Geschichte von Mittelerde – findet sich bei Tolkien immer wieder. Die einzige Gewissheit über das Böse ist, dass es existiert: „and of Evil this alone is dreadly certain: Evil is“, schreibt er in seinem Gedicht Mythopoeia. Dieser Pessimismus hat verschiedene Ursachen. Eine ist biografisch: Tolkien hat die Schrecken des Krieges und der Schützengräben erlebt. Der Tod seiner Freunde aus dem Schülerzirkel TCBS hat ihn sehr geprägt. Sein Werk war ein Weg, dieses Leid zu sublimieren – den Blutgeruch, den Gestank von fauligem Wasser und die Schrecken des Niemandslands, von denen vor allem seine Beschreibung der Totensümpfe lebt, hat er durch Bilder ersetzt. Man muss aber auch sehen, dass der Bezug zur Bibel grundlegend ist: Das Böse ist stark, die Menschheit verliert immer wieder, sie verliert den Kampf gegen das Böse. Natürlich gibt es Siege, Lichtblicke, Momente des Aufatmens. Aber diese Erfolge sind nur kurze Atempausen. So leitet der Beginn des Vierten Zeitalters nach der Niederlage Saurons eine Zeit des Friedens ein. Doch die Ruhe währt nur 100 Jahre. Ein „neuer Schatten“ erscheint, um den Titel einer unvollendeten Erzählung zu zitieren, die Tolkien begonnen hatte. Die Menschen – und auch die Elben – sind unfähig, dauerhaft dem wahrhaft Guten gerecht zu werden. Bald bricht ihr Hochmut wieder hervor.
„Der Macht des Bösen in der Welt können leibliche Geschöpfe letztlich nicht widerstehen“, schreibt Tolkien in einem Brief. Passiert genau das mit Frodo?
Frodo widersteht dem Ring, dem Bösen, das an ihm zerrt, bis zum Ende des Abenteuers. Am Rande der Schicksalsklüfte wird er jedoch schwach und beansprucht den Ring für sich. „Doch jetzt ziehe ich vor, nicht zu tun, wozu ich gekommen bin. Ich will diese Tat nicht tun. Der Ring ist mein“, sagt er. In Wirklichkeit hat er keine Wahl mehr: Sein Wille ist gebrochen; er kann nicht mehr frei entscheiden. Dies ist ein Umschlagpunkt. Das sagt Tolkien auch in einem Brief, in dem er die letzten Worte des Vaterunsers zitiert: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel“. Er hielt dies für eine schwierige und leicht vergessene Bitte. Es gebe außergewöhnliche Situationen, er nennt sie „,Aufopferungs‘-situationen“, in denen das Gute in den Händen eines Einzelnen liege und die teils abnormale, gar übermenschliche Widerstandsfähigkeit und Leiden erforderten. In so einer Situation, meint Tolkien, ist man „in gewissem Sinne zum Scheitern verurteilt, verurteilt, der Versuchung zu erliegen oder unter Druck gegen seinen ,Willen‘ zusammenzubrechen“. Aus dieser Sicht ist Frodos Scheitern kein moralisches Versagen. Frodo selbst hat alles getan, was er konnte. Und trotzdem musste die Mission misslingen.
Dennoch ist die Mission am Ende erfolgreich …
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Was ist Tolkiens Zauber?
Tolkiens Geschichten handeln von Zwergen, sprechenden Bäumen und anderen ungewöhnlichen Kreaturen. Ist das nostalgische Nischenliteratur? Oder führt er eine große Tradition des Erzählens fort? Mit dem Literaturkritiker Denis Scheck und dem Philosophen Josef Früchtl sprachen wir über Mythen, Fantasy und Helden unserer Zeit.

Enrico Spadaro: „Dem technophilen Enthusiasmus setzt Tolkien einen ‚Verzicht‘ entgegen“
Tolkiens Erzählungen sind durchzogen von Nostalgie und Naturliebe. Lässt sich dahinter eine politische Haltung ausmachen? Wie sah Tolkien die Gesellschaft seiner Zeit? Ein Gespräch mit Enrico Spadaro über Maschinen, Natur und Anarchismus.

Jens Balzer: „Erst in der Rezeption kommt das Werk zu sich“
Aus Tolkiens Erzählungen haben spätere Generationen oft etwas ganz Eigenes gemacht. Ein Gespräch mit Jens Balzer über Hippies, die Hobbits lieben, Black-Metal-Bands, die nach Mordor wollen, und postkoloniale Diskurse.

Vom Bösen gezeichnet, zum Guten bestimmt
Tolkien stellt seine Geschöpfe auf harte Proben und viele von ihnen machen dabei eine gute Figur. Keiner allerdings widersteht dem Bösen so beständig wie Gollum, der tragische Held der Geschichte.

Der Sturz des Tyrannen
Der Ukrainekrieg bringt Putins Herrschaft ins Wanken. René Schlott zeigt, was uns Platon und Aristoteles über das unausweichliche Schicksal des Tyrannen lehren.

Gutes Essen, gutes Leben?
Haben wir das Gefühl für gute Nahrung verloren? Oder ist die Idee einer genussvollen Ursprünglichkeit nur ideologischer Schein? Die Köchin Sarah Wiener und der Philosoph Harald Lemke im Streitgespräch über platonisches Fast-Food, verbissene Veganer und das alltägliche Wagnis, vom Baum der Erkenntnis zu naschen
Bin ich, was ich esse?
Mensch sein heißt, vom Baum der Erkenntnis gekostet zu haben. Mehr denn je steht die Essenswahl heute unter gesellschaftlichem Druck. Selbst gewählte Nahrungstabus bilden das Zentrum unserer Identität, ersetzen zunehmend religiöse und auch politische Bekenntnisse. Die damit verbundenen Haltungen pendeln zwischen lebensfroher Heilserwartung und genussferner Hypersensibilität, revolutionärer Energie und Angst vor staatlicher Überregulierung. Ist gutes Essen wirklich immer gesund? Gibt es überhaupt natürlichen Genuss? Und wenn ja, weist er wirklich den Weg zu globalen Lösungen? Oft, schrieb einst Friedrich Nietzsche, entscheidet ein „einziger Bissen Nahrung, ob wir mit einem hohlen Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen“. Hatte er recht?
Das vermeintlich Gute, das Böses schafft
Was, wenn sich das Böse gar nicht immer selbst als Böses versteht, sondern oft selbst sogar als Gutes missversteht? Gerade bösester politischer Fanatismus hält sich gern für die Rettung der Menschheit. Umgekehrt beruht unser Wirtschaftsliberalismus auf der im 18. Jahrhundert entwickelten Idee, dass durch die entfesselte Konkurrenz im freien Markt aus lauter individuell schlechten Absichten ein gesamthaftes Gutes macht.
