Mit dem Thermomix zurück zur Natur
Traditionelle Hausfrauen trenden als „Tradwife-Bewegung“ in den sozialen Medien. Was von vielen als Backlash betrachtet wird, ist für diese gerade ein Akt der Emanzipation.
„Eine Frau hat nur zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Wie in einer Dr.-Oetker-Werbung der 1950er-Jahre zeigen die Tradwifes – perfekt frisiert und in gebügelten Kittelkleidern – auf Instagram und TikTok, wie sie ihr alltägliches Leben als „traditionelle Ehefrau“ genießen: Mit flatternden Röcken tänzeln junge Frauen durch die Küche, schieben Kuchen für den Plätzchenbasar der Kinder in den Ofen und umsorgen hingebungsvoll ihren Ehemann.
Die Tradwife-Bewegung präsentiert sich dabei als Rückkehr zur Achtsamkeit, Entschleunigung und Natürlichkeit: Anstatt sich zwischen den Polen Beruf und Familie zerreißen zu lassen, finden die Tradwifes in ihrem Dasein als „Fulltime-Hausfrau“ Erfüllung. Dem Liberalfeminismus, dessen „Du kannst alles gleichzeitig!“-Versprechen vielerorts zu einer Doppelbelastung junger Frauen durch Familie und Beruf führte, wird hier eine klare Absage erteilt. Viele Tradwifes sehen sich selbst dagegen als Vollendung eines Feminismus, der alle weiblichen Lebensläufe als gleichwertig betrachtet.
Tradition und Thermomix
Auch gegenüber Maschinisierung und kapitalistischen Zwängen möchten die Tradwifes ihre Selbstbestimmung behaupten: Mit konzernkritischem Blick werden nur unverarbeitete Lebensmittel eingekauft und jede Mahlzeit selbst zubereitet – nicht einmal der Kaugummi darf aus der Verpackung stammen! Auf TikTok werden den Followerinnen dann die Kenwood-Küchenmaschine und der Smoothie-Mixer vorgeführt, mit denen man die beinahe sakralisierten Mahlzeiten auf den Tisch zaubert.
Der freudsche „Prothesengott“ ist hier weiblich geworden – jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen. Während dieser technische Hilfsmittel dazu nutzt, um Natur und Vergangenheit hinter sich zu lassen, findet sich bei den Tradwifes das gegenteilige Bedürfnis: Samt Brotbackmaschine und Hightech-Thermomix inszenieren sie eine vermeintliche Natürlichkeit und Traditionsverbundenheit – mit dem Smartphone gefilmt, versteht sich. Sie schaffen sich einen klimatisch angenehm beheizten Raum, in dem sie „Natürlichkeit“ auf künstliche Weise ausleben. Das Kulturwesen Mensch wird so zum „Prothesentier“, das nicht wahrhaben will, dass die hier präsentierte „Natur“ so nie existiert hat. Ist doch selbst die Hausfrau samt ihren Instagram-tauglichen Töchtern eine kulturelle Erfindung der Spätmoderne. Oder wird durch den Ruf nach der Rückkehr zur Natur die „traditionelle Höhlenfrau“ zum nächsten Trend? •
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