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Bild: Max Halberstadt

Klassiker

Freud und die Kultur

Marianna Lieder veröffentlicht am 17 Oktober 2020 8 min

Heute vor 168 Jahren kam Sigmund Freud zur Welt, der nicht nur neurotische Individuen, sondern gleich die gesamte Zivilisation auf die Couch legte. Seine Diagnose: Unsere Kultur gründet auf archaischen Urtrieben, die jederzeit die Überhand gewinnen können. Es droht eine Katastrophe, gegen die keine Vernunft ankommt.

 

Einst glaubte man, die Sonne kreise um die Erde. Dann kam Nikolaus Kopernikus und sagte: Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit ist die Erde ein Planet unter vielen, die alle um die Sonne kreisen. Schweren Herzens verabschiedete sich die Menschheit von der Vorstellung, den Mittelpunkt des Universums zu bewohnen. Immerhin konnte man sich noch mit dem Gedanken trösten, als „Krone der Schöpfung“ von ungleich edlerer Herkunft zu sein als jede sonstige Kreatur auf dem dezentrierten Erdball. 300 Jahre nach Kopernikus kam Charles Darwin und sagte: Das, was ihr Schöpfung nennt, ist eigentlich Evolution. Alle Lebewesen haben sich im Lauf des naturgeschichtlichen Geschehens entwickelt und sind durch einen gemeinsamen Stammbaum miteinander verbunden. Folglich ist der Mensch nicht Gottes Ebenbild, sondern ein hochkomplexer, haarloser Affe. Auch dieser zweite Schock saß tief. Gänzlich wollte die Menschheit ihren Gattungsstolz noch immer nicht aufgeben. Wenn man schon zum Tier degradiert wurde, dann bitte schön wenigstens zum vernunftbegabten, zum "animal rationale". So klammerte man sich im 19. Jahrhundert besonders hartnäckig an das Selbstbild des autonomen Subjekts.

Doch nur wenige Jahrzehnte nach Darwin kam Sigmund Freud und sagte: „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“, womit er meinte, dass wir uns zwar einbilden, mit selbstgewissem Geist und freiem Willen durchs Leben zu gehen. In Wahrheit aber wird unser Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich durch das Unbewusste gelenkt – ein abgründiges, schwer zugängliches Verlies unserer Seele, in dem sich geheime Wünsche, verdrängte Erlebnisse, inakzeptable Begierden und ursprüngliche Triebe tummeln. Die dritte und letzte Menschheitskränkung war mit Abstand die schlimmste. Das stand zumindest für denjenigen fest, der sich die Tat stolz auf die eigenen Fahnen schrieb: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, lautet der Titel des kurzen Essays von 1917, in dem Freud das Sprengstoffpotenzial seiner Lehre betont und sich gemeinsam mit Kopernikus und Darwin zur Dreifaltigkeit der Desillusionierung erklärt.

Angesichts solch enthemmter Selbstbeweihräucherung drängt sich der Einwand auf: Haben nicht die Philosophie und die Literatur viel ältere Rechte am Begriff des Unbewussten als die Psychoanalyse, die hier so triumphierend und vereinnahmend auftritt? Man denke nur an romantische Dichter wie Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann, an Eduard von Hartmann, den „Philosophen des Unbewussten“, von Nietzsche ganz zu schweigen. Allerdings versuchte Freud gar nicht erst zu verhehlen, dass andere bereits über sein Leib- und Magenthema gedichtet, philosophiert und spekuliert hatten. Stellvertretend für seine geistigen Ahnen verweist er im Text über die drei Kränkungen auf Arthur Schopenhauer und dessen Idee vom blinden, vernunftlosen, „unbewussten“ Willen. (Nebenbei wird übrigens auch erwähnt, dass das kopernikanische Weltbild ebenso seine Vorläufer hatte wie die Evolutionstheorie Darwins.) Freud hat das „Unbewusste“ zwar nicht „entdeckt“, aber er ist weit über alle früheren Beschreibungs- und Erkenntnisversuche hinausgegangen. Er tauchte so tief in den Untergrund des Denkens wie niemand zuvor. Es gelang ihm, im scheinbar Vernünftigen die Unvernunft dingfest zu machen, und umgekehrt beförderte er die Sinnhaftigkeit im vermeintlich Irrationalen zutage.

Für Unaussprechliches erfand Freud eine neue Sprache. In seinen Texten treffen naturwissenschaftliche Begriffe, Fallstudien, Gleichnisse, Mythen und Alltagsbeobachtungen zusammen. Während er zu Lebzeiten an der Grenze des Sagbaren entlang balancierte, fällt es heute schwer, eine von ihm geprägte Vokabel zu finden, die nicht in die Umgangssprache eingesickert ist: Ödipuskomplex, Verdrängung, Über-Ich, Fetisch, Libido, polymorph-pervers. Inzwischen kommt kein Partyplausch, kein Beziehungsstreit, kein Lifestylemagazin mehr ohne freudsche Versprecher aus. Berücksichtigt man ferner, dass Freuds Werk zudem noch in Wissenschaft, Kunst, Literatur, Politik, Therapeutik markante Spuren hinterlassen hat, wirkt der Selbstvergleich mit Darwin und Kopernikus zwar immer noch ein wenig eitel, doch keineswegs unangemessen.

 

Der Zensor in uns allen

 

Angefangen hatte der große Menschheitskränker mit der denkbar menschenfreundlichen Absicht, Kranke zu heilen. Davon zeugen die „Studien über Hysterie“, das 1895 erschienene „Urbuch“ der Psychoanalyse. Neben Freud gab es einen zweiten Herausgeber, Josef Breuer, ein verdienstvoller Wiener Arzt, der heute als Mitbegründer der Psychoanalyse nahezu vergessen ist. Als die Studien erschienen, hatten Breuer und Freud sich bereits überworfen. Das Hauptstreitthema war natürlich Sex. Freud vertrat nämlich die Überzeugung, dass hinter den Neurosen der Patientinnen (Männer waren auf der psychoanalytischen Couch zunächst eine Seltenheit) unbewältigte sexuelle Konflikte und Traumata stehen würden. Breuer hielt diesen Ansatz für falsch, vor allem fand er ihn reichlich schlüpfrig. Freud machte alleine weiter und veröffentlichte 1899 „Die Traumdeutung“. Später sollte dieses Werk den feierlichen Beinamen „Jahrhundertbuch“ erhalten. Dazu beigetragen hat gewiss auch der Verleger, der das Buch aus marketingstrategischen Überlegungen auf 1900 vordatierte. Worum es darin ging? Wie der Titel schon sagt, um Träume, ihre Deutung und ihre Bedeutung – und damit auch um den Mechanismus der Gefühle, um die Künste der Seele, die ein Meister im Verdrängen, Verdichten und Verschieben ist. Im Traum sah Freud den „Königsweg zum Unbewussten“. Tagsüber, meinte er, unterliegen unsere geheimen Wünsche und Begierden einer Zensur. Im Schlaf ist diese Kontrollfunktion weniger effektiv und das Verborgene zeigt sich. Dabei fällt vor allem eines auf: Freud unterscheidet nun nicht mehr zwischen „krank“ und „gesund“. Seine Traumarbeit geht jeden an, denn jeder träumt. Von der Psychopathologie hat er seinen Interessenschwerpunkt auf die „Normalpsychologie“ verlagert, auf die grundsätzliche Betrachtung der menschlichen Psyche.

Allerdings sah sich Freud außerhalb des klinischen Bereichs nicht mit weniger Elend und Kummer konfrontiert. Denn jeder Mensch ist ein Mensch unter Menschen, eingebettet in einen bestimmten gesellschaftlichen und zivilisatorischen Kontext. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Und genau darin bestand Freud zufolge das Problem. Das volle Ausmaß dieser Tragik hat er 1930 beschrieben. „Das Unbehagen in der Kultur“ lautet der Titel der schmalen, wirkmächtigen Schrift, in der Freud soziale und zivilisationsgeschichtliche Prozesse in den psychoanalytischen Blick nimmt. Kultur, denkbar allgemein definiert, „als Summe unserer Leistungen, in denen sich unser Leben von tierischen Ahnen entfernt“, ist demnach unbedingt notwendig. Dient sie doch, erstens, „dem Schutz des Menschen gegen die Natur“. Zweitens regelt die Kultur das menschliche Miteinander. Ohne sie geht es einfach nicht.

Dennoch, schreibt Freud, grassiert eine regelrechte „Kulturfeindlichkeit“: Selbst der wissenschaftlich-technische Fortschritt mit all seinen Herrlichkeiten (Grammofon, Flugzeug, Dampflock, Automobil, Brillengläser und Penizillin) kann diesen Unwillen nicht mindern. Der Mensch ist ein „Prothesengott“, heißt es, „recht großartig, wenn er all seine Hilfsorgane anlegt“. Nur glücklich ist er nicht. Der Grund: Triebverzicht, Bedürfnisverleugnung, Sublimierung. Kultur ist nach Freud das Produkt der kollektiven Anstrengung, rohe menschliche Ursprungsenergien in sozialverträgliche Formen zu überführen. Dadurch entstehen einerseits hübsche und nützliche Dinge (Kunstwerke, Bürokratie, Krankenhäuser), andererseits auch jede Menge Frust. Insbesondere Eros, der Sexual- und Lebenstrieb des Menschen, hat unter der Kultur zu leiden. Freud hat Ähnliches bereits in früheren Schriften beschrieben. Eros wird eingeschränkt, zur Abstinenz und Monogamie und in die – heute würde man sagen – Heteronormativität gezwungen: Die zeitgenössische Kultur gestatte „die sexuelle Beziehung nur aufgrund einer einmaligen Bindung eines Mannes an ein Weib“, empört sich der Vordenker der sexuellen Liberalisierungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Doch so gravierend die Opfer des Eros auch sein mögen – Freud zufolge reicht die unterdrückte Sexualität nicht aus, um das große Kulturunbehagen zu erklären. Insbesondere wenn man bedenkt, dass Eros als Lebenstrieb auch eine durchaus zivilisationsförderliche Seite hat. Freud geht davon aus, dass etwas „in der Natur des Sexualtriebs“ regelrecht auch darauf angelegt ist, durch Kulturarbeit sublimiert zu werden: Als „zielgehemmte“ Libido hält Eros Familien zusammen und lässt Gemeinschaften entstehen.

 

Drohende Kriegsgötter

 

Allerdings gibt es noch den komplizierten Bruder – Thanatos, den Todestrieb, die zweite große Urgewalt im Menschen. „Das Ziel allen Lebens ist der Tod“, schrieb Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“, als er Thanatos prominent in die psychoanalytische Trieblehre einführt. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hat zweifelsohne zu dieser Erkenntnis beigetragen. Zehn Jahre später modifiziert Freud diesen Gedanken in seiner Kulturtheorie: Ist Thanatos erstmal in den komplizierten Kulturprozess eingespeist, kann er seine Richtung ändern. Er ist nicht mehr nur nach innen zielende selbstzerstörerische Todessehnsucht, sondern ein nach außen gerichteter „Aggressionstrieb“. Als Drang, nicht nur zu sterben, sondern auch zu töten, wird er zum Widersacher des lebenszugewandten Eros und bedroht die Kultur aus ihrer eigenen Mitte heraus. Wenn der zerstörerische Trieb die Überhand gewinnt, wandelt sich der Kulturmensch vom domestizierten, unglücklichen „Prothesengott“ in einen rasenden Kriegsgott. Keine Vernunft kommt gegen ihn an. Das war eine Ungeheuerlichkeit. Wer bei der 1917 verkündeten „großen Kränkung“ (damals gab es Thanatos, wie gesagt, bei Freud noch nicht) noch ungerührt abgewunken hatte, dem stellten sich spätestens jetzt die vom affenähnlichen Vorfahren ererbten Nackenhaare auf. Freud hatte in „Das Unbehagen in der Kultur“ mit einem Schlag die ganze Kultur- und Zivilisationsleistung zu einem fadenscheinigen Gebilde degradiert, das sich jederzeit auflösen kann. Noch dazu wandte er sich gegen die Idealisierung des vermeintlich „guten“, von Gesellschaft und Zivilisation unbefleckten, eigentlichen Wesens des Menschen.

„Die Menschen haben es jetzt mit der Beherrschung der Natur so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten“, heißt es im berühmten letzten Absatz der Schrift. „Sie wissen das. Daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks und ihrer Angststimmung.“ Beim Unbehagen in der Kultur handelte es sich im Grunde um latentes Katastrophenbewusstsein, um eine finstere Vorahnung. Wie berechtigt diese von Freud diagnostizierte kollektive Befindlichkeitsstörung war, sollte sich schon wenig später zeigen. 1938 bejubelte Österreich den „Anschluss“ an Hitler-Deutschland. Der von einer schweren Krebserkrankung gezeichnete 82-jährige Freud musste nach London fliehen. Im Jahr darauf brach sich der vollständig entgrenzte Aggressionstrieb Bahn. Mit dem nationalsozialistischen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Drei Wochen später wählte Freud im Exil den Freitod. Seine Schwestern, denen die Flucht nicht gelungen war, wurden gemeinsam mit unzähligen anderen Menschen ermordet.

Doch Freuds Kulturpessimismus, der schon zu seinen Lebzeiten von vielen seiner Anhänger abgelehnt worden war, sollte es auch nach dem Krieg selbst unter eingeschworenen Neo-Freudianern nicht leicht haben. Herbert Marcuse etwa, Sozialphilosoph aus den Reihen der Frankfurter Schule und Liebling der 68er, wollte unbedingt an der Idee vom emanzipatorischen Gehalt der Triebe festhalten und verharmloste Freuds Thanatos-Lehre in seinem bekannten Werk „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1955) bis zur Unkenntlichkeit. Allerdings schien Freud selbst vor der Radikalität seiner Thesen in „Das Unbehagen in der Kultur“ zurückzuschrecken. An seine Freundin Lou Andreas-Salomé schrieb er kurz nach Fertigstellung der Schrift, sie käme ihm „sehr überflüssig vor“. Im Text spielt er mehrfach die Originalität und Relevanz seiner Ausführungen herunter, ganz so, als wolle er der Leserschaft die Zumutung seiner Einsichten ersparen. An einer Stelle formuliert er die „Schicksalsfrage der Menschenart“: Wird es „der Kulturentwicklung gelingen, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“? Man weiß gar nicht, woran man bei diesen Worten zuerst denken soll. An Selbstmordattentäter, Nuklearwaffen oder doch eher an den Klimawandel? Für Freud gab es keinen verlässlichen Hoffnungsanker. Seine Schrift ist bis heute eine Zumutung, eine, der man sich aussetzen sollte. •

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