Freud und die Kultur
Auf Sigmund Freuds Couch nahmen nicht nur neurotische Individuen, sondern gleich die gesamte Zivilisation Platz. Vor 90 Jahren gelangte der Übervater der Psychoanalyse zu einer Diagnose, die bis heute aufhorchen lässt: Unsere Kultur gründet auf archaischen Urtrieben, die jederzeit die Überhand gewinnen können. Es droht eine Katastrophe, gegen die keine Vernunft ankommt.
Einst glaubte man, die Sonne kreise um die Erde. Dann kam Nikolaus Kopernikus und sagte: Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit ist die Erde ein Planet unter vielen, die alle um die Sonne kreisen. Schweren Herzens verabschiedete sich die Menschheit von der Vorstellung, den Mittelpunkt des Universums zu bewohnen. Immerhin konnte man sich noch mit dem Gedanken trösten, als „Krone der Schöpfung“ von ungleich edlerer Herkunft zu sein als jede sonstige Kreatur auf dem dezentrierten Erdball. 300 Jahre nach Kopernikus kam Charles Darwin und sagte: Das, was ihr Schöpfung nennt, ist eigentlich Evolution. Alle Lebewesen haben sich im Lauf des naturgeschichtlichen Geschehens entwickelt und sind durch einen gemeinsamen Stammbaum miteinander verbunden. Folglich ist der Mensch nicht Gottes Ebenbild, sondern ein hochkomplexer, haarloser Affe. Auch dieser zweite Schock saß tief. Gänzlich wollte die Menschheit ihren Gattungsstolz noch immer nicht aufgeben. Wenn man schon zum Tier degradiert wurde, dann bitte schön wenigstens zum vernunftbegabten, zum animal rationale. So klammerte man sich im 19. Jahrhundert besonders hartnäckig an das Selbstbild des autonomen Subjekts.
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Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Welche Wahrheit birgt der Platz?
Fußball ist die große Leidenschaft von hunderten Millionen von Menschen, sei es auf dem Platz oder vor dem Fernseher. Doch was fesselt uns eigentlich an diesem Sport? Christoph Biermann und Wolfram Eilenberger über die Feier des Unvermögens, kontrollierte Chaotisierung und ein alternatives Heimatministerium.
