Müssen wir Ordnung halten?
Besonders im Frühjahr packt viele der Putz- und Aufräumwahn. Aber warum halten wir überhaupt Ordnung? Drei Positionen zum Scheuern, Wischen und Umsortieren.
Konfuzius
(6.–5. Jh. v. Chr.)
„Ja, um frei zu sein“
Ungeregelte und chaotische Zustände waren dem chinesischen Gelehrten Konfuzius ein Graus – in ihnen herrschten Zwang und Bedrängnis. Freiheit gibt es für ihn erst in geordneten Zuständen, in einem harmonischen großen Ganzen. Dafür müssen wir uns alle an Sitten halten und unsere Pflichten erfüllen. In diesem strengen moralischen Kodex sieht Konfuzius keine Einschränkung der eigenen Freiheit, sondern deren Bedingung. Es ist wie bei einem Spiel: Erst die Regeln machen das Spielen an sich überhaupt möglich. Daher geht die Ordnung einem freien Leben voraus. Der lange Weg zur Freiheit – vielleicht beginnt er ja mit einem ersten Schritt Richtung Staubsauger.
Friedrich Nietzsche
(1844–1900)
„Nicht, wenn wir kreativ sein wollen“
Zwei Seelen, ach, in des Menschen Brust – nach Nietzsche streiten zwei Kräfte in uns um die Vorherrschaft: das Apollinische und das Dionysische. Steht Apollon für die Ordnung und die Rationalität, so Dionysos für das Sinnliche und Irrationale. Wer nun wahrlich schöpferisch sein will, darf es allerdings mit der Ordnung nicht übertreiben. Erst im Sinnlich-Irrationalen, in der rauschhaften Entgrenzung kann man richtig kreativ sein. Nietzsche spricht gar von Chaos, das man in sich tragen müsse, um „tanzende Sterne“ zu gebären. Wer also keine Lust hat aufzuräumen, kann es getrost sein lassen, sich entspannt der eigenen Muse hingeben und von der großen Kunst träumen.
Gilles Deleuze (1925–1995)
und Félix Guattari (1930–1992)
„Nein, Ordnung führt zu Totalitarismus“
In ihrem Buch Rhizom gehen Gilles Deleuze und Félix Guattari im wahrsten Sinne des Wortes radikal vor: zur Wurzel nämlich, zum Rhizom, das sie als Metapher für das menschliche Denken ausmachen, welches verästelt und verworren sei. Als entsprechend totalitär lehnen sie deshalb auch klare Differenzierungen ab. Ein Ordnungsprinzip, das klar zwischen schön und hässlich, gut und schlecht et cetera unterscheidet, führe letztlich zu hierarchischen Machtstrukturen. Übertragen auf die eigene Wohnung ist Unordnung also keinesfalls ein Ärgernis. Nur wer lebt wie in einem Wurzelwerk, kann eine blühende, freie Existenz führen. •
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Kommentare
Ich schätze, dass moderate Ordnung und moderate Versuche, sie zu wahren, gut sein können für das meiner Meinung nach höhere Mittel wahrscheinlich ausreichender Befreiung und den Zweck des Versuchens des wahrscheinlich Besten für alle.