Eigentum verpflichtet — aber wozu?
Nummer Nr. 51 - Apr./Mai 2020Eigentum verpflichtet -- aber wozu?
Wenige Menschen besitzen viel. Die meisten fast nichts. In welcher Verantwortung stehen Eigentümer zu Besitzlosen? Ein aufklärendes Dossier über eine heiß umkämpfte Frage.
„Eigentum muss permanent umverteilt werden“
Die soziale Schere wird immer größer. Der Ökonom Thomas Piketty schlägt gegen diesen Trend unter anderem einen partizipativen Sozialismus, eine Erbschaft für alle sowie radikale Umweltmaßnahmen vor. Im Interview erläutert er, was hinter seinen Forderungen steht.
Haben Sie das bedacht, Herr Piketty?
Substanzen der Wahrheit?
Die Lehren des Leibes
Das Model
Schelling und die Klimakrise
Inhalt
Intro /
- Editorial
- Beitragende
Arena / Denkanstöße
- Einwurf China: Der Bote als Erreger / Liberalismus: Freiheit zum Verzicht / Verschleierung: Die Wiederkehr der Physiognomik
- Sinnbild
- Reportage Substanzen der Wahrheit? Von Susanne Schmetkamp
- Fundstück Corona: unter Kontrolle Michel Foucault: „Überwachen und Strafen“
- Vorabdruck Autorität ist weiblich Von Catherine Newmark
- Dorn denkt Bürger aller Länder, vereinigt euch! Kolumne von Thea Dorn
Leben /
- Weltbeziehungen Heilsame Helden / Grübelstopper / Parkinsons Gesetz
- Das Model Catharina Geiselhart im Porträt Von Theresa Schouwink
- Lösungswege Müssen wir Ordnung halten?
- Die Lehren des Leibes Dialog zwischen Giulia Enders und Gernot Böhme
- Unter uns Die Sache mit dem Multi-Anti-Tasking Kolumne von Wolfram Eilenberger
Dossier / Eigentum verpflichtet - aber wozu?
- Die sichtbare Hand des Marktes Von Nils Markwardt
- Wem gehört die Schlossallee? Historischer Überblick zum Besitz
- „Eigentum muss permanent umverteilt werden“ Interview mit Thomas Piketty
- Haben Sie das bedacht, Herr Piketty? Kommentare von Werner Plumpe, Stefan Gosepath, Tilo Wesche
Klassiker /
- Schelling und die Klimakrise Essay von Peter Neumann
- Überblick Was ist Kynismus?
- Zum Mitnehmen Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“
- Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse
Bücher /
- Kurz und bündig Kolumne von Jutta Person
- Buch des Monats Michael Hampe: „Die Wildnis. -- Die Seele -- Das Nichts“
- High Noon in Todtnauberg Paul Celan und Martin Heidegger
- Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel
- Thema Zaudern Deutsche anders?
Finale /
- Ästhetische Erfahrung Musik: Billie Eilish / Kino: „La vérité“ / Ausstellung: Vernunft geht durch den Magen
- Agenda
- Leserpost / Impressum
- Phil.Kids
Arena
Substanzen der Wahrheit?
Psychedelika werden in jüngster Zeit wiederentdeckt. Führt ihre Einnahme nur zu Halluzinationen? Oder ermöglichen sie vielmehr tiefe Erkenntnis über Welt und Selbst – was gar für eine Legalisierung spräche? Unsere Autorin hat den Selbsttest gewagt.

Corona: Unter Kontrolle
Der Kampf gegen Ansteckung ist mehr als nur eine medizinische Maßnahme. Mit Blick auf die Pest beschreibt Michel Foucault ihn als Urszene moderner Disziplinierung.
Bürger aller Länder, vereinigt euch!
Bei den Thüringer Landtagswahlen hat die AfD abermals versucht, den Begriff des „Bürgerlichen“ zu besetzen. Ein perfider wie gefährlicher Vorgang. Weckruf von Thea Dorn.
Leben
Heilsame Helden?
Eben noch depressiv, jetzt schon mutig wie Batman: Eine neue Therapierichtung setzt auf Identifikation mit Filmhelden. Hätte Nietzsche applaudiert?

Grübelstopper
Schlaflosigkeit ist neben Rückenschmerzen eines der am weitesten verbreiteten Leiden in Deutschland.
Das Model
Einzigartigkeit und Normierungsdruck kreuzen sich in der Modewelt wie nirgends sonst. Catharina Geiselhart lief für die ganz großen Designer. Porträt einer Frau, die sich vom Blick der anderen zu befreien versucht.
Müssen wir Ordnung halten?
Selbst wenn es dieses Jahr keine großen Familienfeiern gibt, soll es Zuhause ordentlich sein. Aber warum überhaupt? Drei Positionen zum Putzen, Wischen und Umsortieren.

Parkinsons Gesetz
Viele kennen das: Man werkelt stundenlang an einer E-Mail herum, weil sonst nichts Wichtiges zu tun ist. Ohne es zu merken, folgt man dabei einem vom Historiker und Philosophen Cyril Northcote Parkinson formuliertem „Gesetz“.

Giulia Enders und Gernot Böhme im Dialog: Die Lehren des Leibes
Dass wir einen Körper haben, wird uns meist erst bewusst, wenn er schmerzt. Dabei ist er es, der die Antworten auf die großen Fragen der Existenz tief in sich trägt: Giulia Enders und Gernot Böhme über die Intelligenz des Darmes und Leibsein als Aufgabe.

Unter uns: Die Sache mit dem Multi-Anti-Tasking
Unser Kolumnist Wolfram Eilenberger widmet sich dem Phänomen des „Alles und nichts“-Tuns und befindet auch aus eigener Erfahrung: Wo der Mensch sich zerstreut, kommt er wirklich zu sich selbst.

Dossier
Die sichtbare Hand des Marktes
Es war keine utopische Spukgeschichte: Als Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem 1848 erschienenen Manifest jenes „Gespenst des Kommunismus“ beschworen, das Kapitalisten in Enteignungsangst versetzen sollte, war das für sie vielmehr eine realistische Zukunftsprognose. Denn Marx und Engels legten großen Wert darauf, dass es sich im Kontrast zu ihren frühsozialistischen Vorläufern hier nicht um politische Fantasterei, sondern eine geschichtsphilosophisch gut abgesicherte Diagnose handle: Der Weltgeist sieht rot.

Wem gehört die Schlossallee?
Ob Privatbesitz der Grund allen Übels oder vielmehr die Voraussetzung der Freiheit ist - darüber war man sich in der Philosophiegeschichte uneins.

Thomas Piketty: „Eigentum muss permanent umverteilt werden“
Die soziale Schere wird immer größer. Der Ökonom Thomas Piketty schlägt gegen diesen Trend einen partizipativen Sozialismus vor. Ein Interview.

Haben Sie das bedacht, Herr Piketty?
Erbschaft für alle, Höchstbesteuerung von Vermögen, radikale Umweltmaßnahmen. Thomas Pikettys Forderungen sind weitreichend. Aber wie überzeugend sind sie? Drei kritische Kommentare.

Klassiker
Schelling und die Klimakrise
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war der Naturphilosoph schlechthin. Vor über 200 Jahren kehrte er die Blickrichtung auf die Natur um und dachte sie als natura naturans, als freies, handelndes Subjekt. Seine Gedanken, die sich dem fortschrittsseligen Credo des 19. Jahrhunderts entgegenstellten, sind heute, in Zeiten der Klimakrise, auf nahezu unheimliche Weise aktuell.
Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“
Aufklärung und Mythos sind in gewisser Weise das Gleiche, behaupten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1944), dem Hauptwerk der Kritischen Theorie. Klingt widersinnig? Wir helfen weiter.

Bücher
Zahlmoral
veröffentlicht amBücher - kurz und bündig „Verdienen Sie fünfhundert im Jahr mithilfe Ihres Verstandes“, rät Virginia Woolf den College-Studentinnen, die 1928 ihren Vortrag hören: „Ein Zimmer für sich allein“ wird im Folgejahr als Essay veröffentlicht und entwickelt sich zu einem der einflussreichsten feministischen Texte des 20. Jahrhunderts (neu übersetzt von Antje Rávik Strubel, Gatsby/Kampa, 24 €). Mit analytischer Brillanz und funkelnder Ironie deckt Woolf die materiellen Grundlagen des geistigen Lebens auf, denn wer schreiben will, braucht eben nicht nur das weltberühmte eigene Zimmer, sondern: Geld. Die ominösen 500 Pfund ziehen sich als roter Faden durch diesen völlig unverstaubten, nach wie vor grandiosen Text, der alles daransetzt, Frauen zum Schreiben zu ermutigen – und mit der Emanzipation auch Klassenschran -ken, Armut und Kolonialismus im Blick hat. Um beim Thema zu bleiben: „Der Triumph der Ungerechtigkeit“ von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman (Suhrkamp, 22 €) erfasst präzise, wie „Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert“ zusammenhängen, so der Untertitel. Die simple Logik, dass Reiche reicher und Arme ärmer werden, wäre durch eine „Erneuerung der fiskalischen Demokratie“ zu stoppen, schreiben die Ökonomen. Ungleich radikaler ist Eske Bockelmanns lesenswerte Studie über „Das Geld“ (Matthes & Seitz, 28 €). Gegen den wissenschaftlichen Trend hält es der Philologe für eine recht junge Erfindung – was wiederum bedeute, dass es auch ohne Geld ginge. „Die Menschen können in einer Welt ohne Geld leben, da sie in einer Welt ohne Geld gelebt haben.“ Bis es so weit ist, erinnern wir an Virginia Woolf. Solange wir für Geld arbeiten, ist Gerechtigkeit auch eine Frage der Zahlmoral.

Spielarten der Verwandlung
Narrative Philosophie: Michael Hampe lotet in „Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts“ drei existenzielle Orte des Übergangs aus.
High Noon in Todtnauberg
veröffentlicht amPaul Celan und Martin Heidegger trafen sich seit 1967 mehrmals. Was verband und was trennte ihre Idee von Sprache? Drei Autoren folgen verschiedenen Spuren Historische Vergleiche passen selten und drängen sich ständig auf. Wenn in einem deutschen Landtag der gerade gewählte Ministerpräsident einem Rechtsaußen die Hand reicht, möchte man an Paul Celan denken. Der Lyriker, dessen Eltern im KZ starben, fragte sich einmal, wem in Deutschland „man die Hand drücken kann, ohne Gewissensbisse haben zu müssen“. Umso interessanter ist, dass Celan – der literaturbesessen im jüdischen Czernowitz in der Bukowina aufwuchs, ein Arbeitslager überstand und über Bukarest und Wien nach Paris floh – sich seit 1967 mehrmals mit Martin Heidegger getroffen hatte. Hier der in den Nationalsozialismus verstrickte Denker, dort der jüdische Dichter der „Todesfuge“. Was hatten sie sich zu sagen? Der Germanist Gerhard Neumann jedenfalls sah sich seinerzeit als Zeuge eines „epochalen“ Gesprächs. Celan selbst hat darüber ein verrätseltes Gedicht geschrieben, als gelte es, die Deutungshoheit nicht zukünftigen Biografen zu überlassen. Entsprechend übt sich Wolfgang Emmerich in Zurückhaltung: „worüber gesprochen und worüber geschwiegen wurde, ist bis heute umstritten“. Die Orkanstärke „epochal“ wird bei ihm auf eine biografische Episode herabgestuft, wobei die wirkliche Begegnung hinter die intellektuelle zurücktritt. Für diese ist Heideggers Analyse der Seinsgeschichte mit Existenzialien wie „Geworfenheit“ entscheidend. Sie bilde die begriffliche Grundierung für Celans Erfahrungswelt. Während der Philosoph die Schoah aus der Seinsgeschichte ausblendete, sei für den Dichter „der ständige Bezug auf die selbst erlebte Gewaltgeschichte nicht verhandelbar“. Und auch prägend für sein Verhältnis zu den Deutschen, um das es Emmerichs beeindruckender Studie eigentlich geht. Dass Celans Muttersprache, seine Dichtersprache, durch die Nazis zur Mördersprache wurde, zeigt sich für den Literaturwissenschaftler im Werk und Leben des Dichters als Konflikt zwischen „den“ Deutschen und „dem“ Deutschen. Sosehr Celan Heidegger im Verständnis der dichterischen Sprache als „lichtendem“ Wahrheitsgeschehen folgt, so sehr besteht er darauf, dass nicht die Sprache selbst am Werk ist, sondern „ein ‚sprechendes Ich‘, ein Subjekt, das ‚unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz‘ steht“. Diese Existenz ist für Emmerich zwar von der deutschen Sprache und zugleich dem Leben als französischer Citoyen imprägniert, doch ihren „Neigungswinkel“ erhält sie durch das „Jüdisch-Sein nach der Shoah“. Das stellt Helmut Böttiger zwar nicht infrage, klammert es aber ein. Celan ist für ihn vor allem ein Opfer seiner Rezeption, sakralisiert zum reinen Dichter der Menschheitskatastrophe. Aber: „primärer Bezugspunkt war die deutschsprachige Literatur, und zwar in einer Form, die der Kunst höhere Weihen verlieh und sie durchaus neben die althergebrachten Formen der Religion stellte“. Von dort aus rekonstruiert der Literaturkritiker und Autor auch Celans distante Nähe zu Heidegger. Dass Sprache bei Heidegger auf ein Deutsch ziele, „das fest verankert ist in der Vorstellung des dazu gehörigen Volks“, war für Celan undenkbar. Strenger noch als Emmerich weigert sich Böttiger, das reale Geschehen im Schwarzwald zu stilisieren. Er verlässt sich stattdessen auf Celans Gedicht „Todtnauberg“, in dem von „einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort“ die Rede ist und davon, dass am Ende „Orchis und Orchis, einzeln“ dastünden, „Krudes, später im Fahren, / deutlich“ gesprochen worden sei. Weil „Orchis“ der wissenschaftliche Name für Orchideengewächse ist, schließt Böttiger: „Heidegger und Celan haben in der Hütte miteinander gesprochen, aber als sie aus der Hütte hinaustreten, sind sie voneinander getrennt.“ Hans-Peter Kunisch dagegen lässt aus Zeugnissen wieder Menschen werden. Schon vor der ersten Begegnung weiß Heidegger, „dass die nächsten zwei Tage mit zu den schwierigsten gehören, die er zu überstehen hat“. Als Celan in Freiburg ankommt, trifft sein Biograf ihn „auf seinem schmalen Bett im Freiburger Hotel Victoria“, wo Celan sich schwer fühle, „so schwer, wie die alten, dunkelroten Vorhänge, aus denen Staubwolken kamen, als er sie vorhin bewegte“. Dann eine Lesung, Heidegger in der ersten Reihe. Dramaturgisch so glänzend wie gewagt, imaginiert Kunisch den Gedankenstrom des Philosophen, lässt Textstellen aus der furchtbaren Rektoratsrede einfließen. Tags darauf die Fahrt zur Hütte im Wagen des Germanistikassistenten Gerhard Neumann: Der Käfer wird zum Käfig, im bedrückenden Schweigen ist Geschichte „das eine Gefängnis, aus dem keiner entkommt“. Heftiger Schlagabtausch auf der Rückfahrt, „krudes Sprechen“, theaterreife Dialoge. Das alles ist zu schön, um wahr zu sein. Und doch – so heikel eine solche Darstellung ist, weil der Autor nicht wissen kann, was seine Protagonisten denken und fühlen – erscheint es wahr genug, um möglich zu sein. Kunisch setzt nicht auf funkelnde literarische Effekte, sondern stiftet quellengesättigt eine Atmosphäre, in der Dichten, Denken und Andenken aufgehoben sind. Werke über Paul Celan Wolfgang Emmerich Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen Wallstein 400 Seiten 24 € Helmut Böttiger Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist Galiani 208 Seiten 20 € Hans-Peter Kunisch Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung dtv 352 Seiten 24 €

Zaudern Deutsche anders?
veröffentlicht amDrei neue Bücher werfen höchst unterschiedliche Blicke auf das deutsche Selbstverständnis der Gegenwart – vom angeblich mangelnden Machtbewusstsein bis zur vorbildlichen Erinnerungskultur Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann muss er wohl auch einen Einfluss auf die Charakteristika ganzer Nationen haben. Beispiel Deutschland: Hier seien, nach 1945, militärische Schwäche und Zurückhaltung typisch. Das befindet der Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer in seinem Essay „Kein Wille zur Macht“. „Deutsche Soldaten kämpfen nicht, sondern helfen“ – was aus historischen Gründen zwar nachvollziehbar sei. Andererseits problematisiert er das deutsche Friedfertigkeitsprimat. Es habe dazu geführt, „an bestimmten, notwendig aggressiven Formen der Politik überhaupt nicht mehr teilzunehmen, wenn möglich sogar aus der Politik ganz auszusteigen“. Bohrer trauert Nietzsches kulturkritischer Kategorie der „décadence“ hinterher. Wenn Nietzsche den Deutschen einen „Willen zur Macht“ abgesprochen hatte (und daraus auf ihre Dekadenz schloss), sei das zu Unrecht skandalisiert worden. Es gebe Macht nämlich nicht bloß im physischen Sinn. Sondern? Im Sinne von „Originalität“, „Eminent-sein-Wollen im Geistigen“ und einer generell ambitionierten Lebenshaltung. Hier habe sich der „Triumphalismus der Nationalsozialisten“ verheerend auf die Nachkriegsmentalität ausgewirkt. Bohrers Polemik bemüht sich kaum um begriffliche oder historische Trennschärfe: Es gebe bei „Sigmund Freud die Bemerkung, dass nur in der deutschen Sprache mit dem Wort ‚Ehrgeiz‘ die Kategorie der ‚Ehre‘ negativ gepolt sei.“ Das führt den Essayisten zum historisch fehlenden aristokratischen Tugendkanon und schließlich zum allgemein gegenwärtigen Sich-gehen-Lassen: Der Mann aus einer ostdeutschen Kleinstadt, der sich in Schlafanzug und Pantoffeln auf den Weg zum nächsten Supermarkt mache; ein Jammerlappen, der sich im Nachmittagsfernsehen über jahrelang erlittene sexuelle Misshandlungen ausbreite; Vernachlässigung und Weinerlichkeit, so weit das Auge reicht. Das stört Bohrer, den Eminenz-Theoretiker, der sich durch herbeizitierte Sätze von Jean-Paul Sartre und Niklas Luhmann in seinem Befund bestätigt fühlt. Der Zeithistoriker Edgar Wolfrum geht weit weniger polemisch vor – und bringt doch auch die verwandte Figur des „zaudernden Riesen“ ins Spiel. Seine Deutschland-Geschichte „Der Aufsteiger“ bezieht sich auf die Zeit seit 1990 und behandelt also eine neuere nationalcharakterbildende Zäsur. Durch die Wiedervereinigung sei Deutschland in die erste Liga der Staatengemeinschaft aufgestiegen, verbunden mit einer unverhofften, nicht bloß wirtschaftlichen, sondern auch außenpolitischen Macht. Auch Wolfrum beobachtet die Verunsicherung, die aus diesem eigentlich komfortablen Status resultierte: Enorme Erwartungen von außen, ein charakteristischer deutscher Selbstzweifel und die „inneren, gesellschaftlichen und vergangenheitspolitischen Beschränkungen“ hätten zu einer „Staatsunsicherheit“ geführt – nach außen wie innen. Bezeichnend, dass gerade die wohlhabenden Deutschen in entsprechenden Rankings zu den „unglücklichsten Völkern der Welt“ zählten, während sie von außen mal beneidet, mal als neue Supermacht im Innern Europas gefürchtet wurden. Der Zeithistoriker hält es mit dem berühmten Diktum Napoleons: Der Naturzustand der Deutschen sei das Werden und nicht das Sein. Wie aber blickt eine amerikanische, außerdem jüdische Moralphilosophin auf ihre Wahlheimat? Seit 20 Jahren leitet Susan Neiman das Potsdamer Einstein Forum. Ihr Buch heißt „Von den Deutschen lernen“ und zielt vor allem auf die deutsche Erinnerungskultur ab. Der Umgang mit dem Bösen, sagt sie, sei ein zutiefst philosophisches Problem und könne doch nicht allein abstrakt gelöst werden. Also verwebt die Autorin Analytisches und Anekdotisches. Neiman findet, dass Deutsche über die Singularität des Holocaust reden sollten, Juden aber über dessen Universalität – diese von Tzvetan Todorov formulierte Prämisse ließe sich von Immanuel Kant ableiten. So diskutiert die Philosophin den deutschen Kampf um die Erinnerung, zum Beispiel am prominenten Fall der Wehrmachtsausstellung, und stellt ihm amerikanische Gegenwartsphänomene gegenüber, darunter Rechtsradikale, die Hitlergruß und Hakenkreuze in die USA importieren. Doch wie lernt man voneinander? Neiman betont die Asymmetrien, die das erschwerten. Als der Sänger Harry Belafonte 1983 in der DDR auftrat und sein Publikum mit dem Satz „Ich bringe euch Grüße aus einem anderen Amerika“ ansprach, habe er sich mit Recht auf amerikanische Menschenrechtler berufen können, die sich als ungebrochene Patrioten begreifen konnten – Identifikationsfiguren mit klarem Profil. Aber das andere Deutschland? Die Perfidie der Nationalsozialisten habe auch darin bestanden, „kulturelle Giganten wie Kant und Goethe in ihr Pantheon zu integrieren“. Worauf solle sich ein nationales Selbstbewusstsein da gründen? Die Lebendigkeit deutscher Identität sei wohl in ihrer Zerrissenheit zu suchen. Im Sinne eines Satzes des Rabbi Nachman: „Nichts ist ganzer als ein gebrochenes Herz.“ Karl Heinz Bohrer Kein Wille zur Macht Hanser 176 Seiten 23 € Edgar Wolfrum Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute Klett-Cotta 368 Seiten 24 € Susan Neiman Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können übers. v. Christiana Goldmann Hanser 576 Seiten 28 €
