Giulia Enders und Gernot Böhme: Die Lehren des Leibes
Dass wir einen Körper haben, wird uns meist erst bewusst, wenn er schmerzt. Dabei ist er es, der die Antworten auf die großen Fragen der Existenz tief in sich trägt: Giulia Enders und Gernot Böhme über die Intelligenz des Darmes und Leibsein als Aufgabe.
Mit ihrem Buch Darm mit Charme erreicht Giulia Enders weltweit Millionen von Menschen. Wie der Darm unser Denken und Sein beeinflusst und was wir von ihm über uns selbst lernen können, legt die Medizinerin so anschaulich wie eindrücklich dar. Auch der Phänomenologe Gernot Böhme erkennt im Leib jene „große Vernunft“, von der bereits Friedrich Nietzsche sprach und die uns, so Böhme, das Leben selbst lehre. In seinem Buch Leibsein als Aufgabe tritt Böhme entsprechend der Auffassung entgegen, unser Körper sei einfach ein Objekt, das quantifiziert, trainiert, behandelt werden kann – und wendet sich damit auch gegen die Schulmedizin. Giulia Enders hingegen verteidigt ihre Disziplin: Ist der Arzt, die Ärztin im Zweifelsfall eben doch klüger als der Leib, der wir sind?
Philosophie Magazin: Frau Enders, zu Beginn Ihres Buches Darm mit Charme erzählen Sie eine sehr persönliche Leidens-, oder man könnte auch sagen Leibesgeschichte, die der Anstoß für die Beschäftigung mit Ihrem Thema war. Was ist das für eine Geschichte?
Giulia Enders: Im Alter von 17 Jahren hatte ich eine Hautkrankheit, die ich erst einmal komplett ignoriert habe, zumindest habe ich das versucht. Da waren Wunden an meinem ganzen Körper, über die Beine verteilt, über die Arme. Ich musste zusätzlich Leggings anziehen, weil es immer durchgenässt hat. Erst nach ein paar Monaten habe ich mir eingestanden: Du musst endlich hinschauen. Und zwar ganz genau. Dieses Hinschauen, dieses Hineingesogenwerden in ein Immer-noch-mehr-wissen-Wollen über den eigenen Körper habe ich dann eigentlich als sehr positiv erlebt. Ich habe ganz neu auf mich geschaut und die Welt um mich herum. Und auch auf die Dinge, die ich zu mir nehme, meinem Körper zuführe. Seither verstehe ich den Menschen anders.
Gernot Böhme: Auch meine Beschäftigung mit dem Leib wurde durch ein Ereignis ausgelöst: die Geburt meines ersten Kindes, meiner ältesten Tochter. Das war damals die Zeit, in der Väter überhaupt erstmals dabei sein durften bei diesem Vorgang. Für mich war die Geburt extrem eindrucksvoll. Ich dachte: „Die menschliche Leiblichkeit! Das ist ja unglaublich, dass ein Mensch im Bauch entsteht.“ Und da bin ich auf das Werk von Hermann Schmitz gestoßen …
PM: Hermann Schmitz, einer der bedeutendsten Phänomenologen der Gegenwart …
Böhme: Ja, und gleichzeitig habe ich damals Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts gelesen, wovon große Partien ebenfalls die menschliche Leiblichkeit behandeln. Interessant für mich war diese eigentümliche Differenz bei Schmitz und Sartre: Bei Schmitz lernt man den Leib kennen als etwas, das einem widerfährt: das Pathische, wie ich es nenne. Bei Sartre hingegen erfährt man seinen Leib von der Aktion, von der Tätigkeit her. Nehmen Sie die Augenschmerzen, die Sartre in seinem Werk behandelt. Er entdeckt sie nicht am Auge, sondern er erkennt sie im Grunde daran, dass ihm das Lesen schwerfällt.
PM: Aber auch in Ihrer Biografie gab es durchaus eine Leidensgeschichte.
Böhme: Meine zweite Frau Farideh Akashe-Böhme ist 2008 an Krebs gestorben. Mit ihr gemeinsam habe ich das Buch Mit Krankheit leben geschrieben. Und es stellte sich heraus, dass in dem Moment, als wir anfingen, über Faridehs Erkrankung und unser Buch zu sprechen, überall in der Verwandtschaft ähnliche Erfahrungen zur Sprache kamen, die vorher nie thematisiert wurden: Operationen, Leid, Therapien und so weiter. Uns hat in dem Buch interessiert, wie Menschen mit ihrem Krankenstatus fertig werden. Und die Beschäftigung hat uns dann zu der These geführt, dass Gesundheit und Krankheit kein Gegensatz sind, sondern dass Gesundheit darin besteht, wie man mit seinen Krankheiten und Behinderungen fertig wird. Fast alle Menschen sind, wenn man es genau nimmt, krank. Würden Sie mir da zustimmen, Frau Enders?
Enders: Ich stimme Ihnen teilweise zu, weil es schon richtig ist, dass dieses ganz gesund sein fast nicht vorkommt. Wir haben immer mit Prozessen zu tun, die den Körper beschäftigen. Es kann zum Beispiel einfach sein, dass man die Zahnzwischenräume ein bisschen zu sehr oder zu wenig gereinigt hat. Dann sind für ein paar Stunden Bakterien im Blut, das beeinflusst das Immunsystem, das wiederum unsere Stimmung beeinflussen kann. Wenn man möchte, könnte man auch das schon als Krankheit einstufen, weil Bakterien ja eigentlich nicht ins Blut gehören. Da wird eine Immunreaktion losgetreten, man fühlt sich ein bisschen matschig oder komisch, aber es ist natürlich einfach Teil unseres Alltags. Gleichzeitig glaube ich aber, dass es körperliche Zustände gibt, die einen Menschen so schwer beeinflussen, dass man das als Krankheit bezeichnen darf oder sogar muss.
Böhme: Jetzt argumentieren Sie natürlich als Ärztin! Mir scheint, wir sollten uns an dieser Stelle kurz Zeit nehmen, um eine wesentliche begriffliche Unterscheidung vorzunehmen. Denn auffällig ist ja, dass Sie vor allem von „Körper“ sprechen, während ich den Begriff „Leib“ verwende. Der Unterschied zwischen beidem ist phänomenologisch höchst bedeutsam. Ich definiere „Körper“ als unsere Natur in Fremderfahrung, also wie der Naturwissenschaftler uns sieht – oder eben der Arzt oder die Ärztin. Unter Umständen auch, wie man im Spiegel erscheint. Und der „Leib“ ist unsere eigene Natur in Selbsterfahrung: Wie spüren wir unsere eigene Lebendigkeit an uns selbst? Da kann kein anderer mitreden, sondern wir sind die einzig authentische Quelle, die über diese Erfahrung sprechen kann. Und natürlich: Die Betrachtung unserer Natur von außen bringt mit sich, dass Ärzte sich über Diagnosen und Sachverhalte verständigen und darüber streiten können, während man das, was man selbst erfährt, eben nur selbst und individuell vertreten kann. Was konkret bedeutet, dass ein bestimmtes Leiden, das ein Mensch am eigenen Leib erfährt, vom Arzt in eine objektive Sprache übersetzt werden muss. In Symptome und Diagnosen, die abrechenbar sind.
Enders: Ja, ich verstehe, dass diese Übersetzung etwas Problematisches hat. Aber nehmen wir zum Beispiel die Depression: Sie haben vorhin gesagt, es gibt keine Krankheit, es geht eher darum, wie man mit seinem Leib umgeht. In meiner Familie gibt es viele Fälle von Depression, und mir war das lange gar nicht so klar. Als Kind wächst man damit auf, erlebt dieses und jenes, nimmt das einfach so an, geht damit um. Im Studium habe ich dann ein Praktikum in der Psychiatrie gemacht. Und wenn man einmal am Tag acht depressive Patienten hintereinander sieht, merkt man sofort, wie auffällig identisch sie sind, wie ähnlich sie auf einmal sprechen und denken. Depression habe ich dadurch plötzlich erlebt wie übergestülpt, wie eine Maske, die Menschen ins Gesicht gepresst ist. Und das ist dann schon etwas, was ich mir erlauben würde, als Krankheit zu bezeichnen, die man dann auch behandeln sollte.
Böhme: Ich betone die Leibeserfahrung auch deshalb so nachdrücklich, weil ich die gegenwärtige Entwicklung mit Sorge beobachte. Wir machen uns immer mehr zu Objekten, verlieren den unmittelbaren Zugang zum Leib. Nehmen Sie die Fitness-Tracker, mit denen immer mehr Menschen herumlaufen. Das ist doch haarsträubend, dass sich die Leute von diesen Geräten abhängig machen. Anstatt sich zu fragen: Wie fühle ich mich? Worauf habe ich gerade Lust?, schauen wir auf diese Armbänder, die uns dann sagen, was wir zu tun und zu lassen haben. Leibsein als Aufgabe, so habe ich eines meiner Bücher genannt. Und diese Aufgabe besteht darin, das lebendige Leben anzunehmen und nicht als Objekt herumzulaufen. Dazu muss man den Leib aber erst einmal entdecken. Mit ihm umzugehen, ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit.
PM: Aber kann man es nicht auch übertreiben mit dem In-sich-hinein-Hören und dem Begehren danach zu wissen, was der Leib mir eigentlich sagen will?
Enders: Das Spiel geht auf jeden Fall in beide Richtungen. Was mir da direkt einfällt, ist eine Patientin, die eine große Eiterhöhle im Bauch hatte. Diese Patientin sagte dann zu mir: „Das ist völlig klar. Ich bin auch so ein Typ, ich mauere immer alles hier unten rein.“ Und ich dachte bei mir: „Wie kann man denn einen Abszess, also so eine Entzündung, so psychologisieren?“ Als die Frau ein paar Wochen später mit Fieber und einer noch größeren Eiterbeule dalag, funktionierten das Antibiotikum und das Ausleeren der Beule doch viel besser als ein tiefenpsychologischer Dialog mit dem Leib.
Böhme: Gewiss, eine solche Psychisierung von Körperlichem gibt es, aber es gibt auch das Umgekehrte: Das nennt man dann Hypochondrie. Heißt: Man hat ein Unwohlsein und schließt dann daraus, dass irgendetwas mit dem Körper nicht stimmt – was aber nicht der Fall sein muss. Ein berühmtes Beispiel ist Immanuel Kant, der Prototyp des Hypochonders, der sich im Übrigen auch damit auseinandergesetzt hat. Er hat durchaus erkannt, dass er hypochondrisch ist. Seine These war: Die Hypochondrie ist eine Folge seines zu engen Brustkorbs. In meinen Augen ist die Hypochondrie im 18. Jahrhundert eine Zivilisationskrankheit – und zwar der Philosophen und der Weber, der sitzenden Berufe. Was bei Kant zu der Hypochondrie beziehungsweise zu dem Gefühl der engen Brust geführt hat, war, dass er von morgens bis abends am Schreibtisch gesessen hat wie die Weber an ihrem Webstuhl.
Enders: Aber es kann eben auch gerade medizinisches Wissen sein, das einen vertieften Dialog mit dem Leib überhaupt erst ermöglicht. Als ich über den Darm so viel gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, zu ihm eine regelrecht emotionale Verbindung aufgebaut zu haben. Ich war so oft begeistert, dankbar, ja gerührt darüber, was das Nervensystem den ganzen Tag über leistet, wie gutmütig der Darm eigentlich ist! Das Gefühl für meinen eigenen Leib ist auch durch Wissen entstanden. Anders gesagt: Ich habe Wissen mit Fühlen verknüpft und so Sinnlichkeit hervorgebracht. Übrigens sehe ich diese Möglichkeit auch bei den Fitness-Trackern. Natürlich haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass die Leute oft viel zu krampfhaft auf diese Dinger schauen. Aber können die Geräte auf der anderen Seite nicht auch einen Dialog ermöglichen? Ich glaube, da draußen laufen gerade das erste Mal in ihrem Leben Menschen herum, die eine Art Dialog mit ihrem Herzschlag anfangen: „Was, warum war der denn um 12 Uhr so hoch? Ach, die Aufregung über den Autofahrer vor mir …“ Das kann auch zu einem leibesbewussteren Verhalten führen.
Böhme: Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Ich habe Ihr Buch mit großem Vergnügen gelesen und ich bin Ihnen sehr dankbar, auch als Philosoph. Es beweist nämlich, dass es den künstlichen Menschen nicht geben wird. Die Science-Fiction-Literatur und die KI-Forschung behaupten, dass man sozusagen mit Stahl und Elektrizität einen Menschen machen kann. Und Sie zeigen sehr klar, dass wir als lebendige Wesen einen unmittelbaren Kontakt mit anderen Lebewesen, mit Millionen und Abermillionen von Mikroorganismen brauchen, um überhaupt zu existieren. Man wird keinen künstlichen Menschen machen können, weil der Mensch ganz konkret eingelassen ist in die restliche Natur. Aber dennoch würde ich Sie gerne etwas Persönliches fragen, Frau Enders: Sie haben ja schlimme Erfahrungen mit der Schulmedizin gemacht. Ihre Hautkrankheit, von der Sie in Ihrem Buch berichten, ist ja vermutlich ausgelöst worden durch einen Antibiotika-Einsatz. Darauf sind Sie erst spät gekommen. Da hätten Sie doch eigentlich auch einen ganz anderen Weg einschlagen können in Richtung Alternativmedizin oder chinesische Medizin. Aber Sie entscheiden sich für die klassische, europäische, naturwissenschaftliche. Das wundert mich …
Enders: Nun, zu meiner Geschichte muss man dazusagen, dass ein großer Teil meiner Familie naturheilkundlich oder alternativmedizinisch eingestellt ist. Meine Großmutter hat ihr Leben bis zum 90. Lebensjahr mit Globuli verbracht und auch meine Mutter hat mir keine Antibiotika gegeben, bis ich 15 war. Durch meinen Hintergrund wurden mir Werte vermittelt, die mir heute noch wichtig sind. Trotzdem gab es für mich diesen einen Moment, in dem ich mich umgedreht und etwas erkannt habe. In meiner Familie war die Schulmedizin immer so etwas wie ein ominöser, nicht wirklich vertrauenswürdiger Mann, dem man besser nicht zu nahe kommt. Aber ich habe diesem Mann in die Augen geschaut und gesehen: Aha. Auch ein Mensch. Mit Fähigkeiten und eben auch Schwächen. Wissen Sie, was ich meine? Die Schulmedizin kann vieles verlässlich heilen. Und es ist ja nicht nur so, dass der schulmedizinische Blick den Körper einfach verdinglicht oder profanisiert. Im Gegenteil, je mehr ich über ihn wusste, desto heiliger erschien er mir. Mir ist aber auch klar geworden, dass ich ihn nie ganz verstehen kann. Es bleibt ein metaphysischer Rest, wenn man so will. Insofern ist es meiner Meinung nach auch falsch, andere Medizinformen per se zu verteufeln.
Böhme: Ich verstehe gut, was Sie meinen, ich bin ja Naturwissenschaftler, habe Mathematik und Physik studiert. Ich verstehe diese Faszination und auch die Freude, diesem ungeheuer komplexen System Schritt für Schritt näher zu kommen. Was mir an Ihrem Ansatz so gut gefällt und mir sehr nah ist: Dass Sie anhand des Darmes klar zeigen, dass der Mensch nicht sein Gehirn ist. In der Philosophie gibt es ein berühmtes Modell: Brain in the vessel, also das Gehirn im Tank. Das, so die Annahme, sei der Mensch, mehr braucht man nicht. Der Mensch ist Hirn. Punkt. Inzwischen weiß man, dass das vegetative Nervensystem genauso viele Nervenzellen hat wie das Gehirn. In Ihrem Buch entfalten Sie eindrücklich die Wechselwirkungen zwischen Darm und Gehirn. Meine Tochter Rebecca Böhme ist übrigens in der Neuroforschung tätig und beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit der Bedeutung von Berührungen (Human Touch, C. H. Beck 2019). Ihre Forschungsgruppe hat gezeigt, dass es gerade bei Berührungen gar nicht nötig ist, dass alles ins Gehirn hochläuft und dass im Rückenmark und im vegetativen Darmsystem bereits Reaktionen stattfinden. Es ist nicht wahr, dass alles, was uns geschieht, auf dem Bildschirm des Gehirns erscheinen muss, und dass wir eigentlich unser Gehirn sind. Darin sind wir uns in jedem Fall einig. Nicht umsonst spricht Nietzsche von der Vernunft des Leibes!
PM: Wörtlich heißt es in den Nachgelassenen Fragmenten von Nietzsche: „Wer einigermaßen sich vom Leibe eine Vorstellung geschaffen hat – wie viele Systeme da zugleich arbeiten, wie viel für einander und gegen einander gethan wird, wie viel Feinheit in der Ausgleichung usw. da ist – der wird urtheilen, daß alles Bewußtsein, dagegen gerechnet, etwas Armes und Enges ist.“ Und von da kommt er dann zur „großen Vernunft des Leibes“ und sagt: „Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten.“ Können Sie damit etwas anfangen, Frau Enders?
Enders: Ja, das finde ich einen sehr guten Gedanken. Vermutlich treffen sich unsere Standpunkte genau dort. Es geht um eine oft unterschätzte Größe des Körperlichen beziehungsweise des Leibes. Exemplarisch dafür steht der Vorgang des Denkens oder auch des „Ich-Gefühls“, was in der Regel komplett dem Gehirn zugeschrieben wird. Fakt ist aber: Das Gehirn ist sehr isoliert im Schädelknochen und einem Gehirnbeutel, der so feinporig ist, dass nur ganz winzige Moleküle durchkommen. Es braucht aber Information, sonst wüsste es ja gar nicht, was es fühlen oder denken soll. Der Darm ist dafür ein sehr zentrales Organ, wenn nicht sogar der wichtigste Berater. Erstens hat er wahnsinnig viele Nervenzellen, und außerdem sammelt er Informationen im Blut: Was sind da für Hormone? Er bekommt Informationen darüber, wie es den Immunzellen geht. Was schicken sie für Signale? Er weiß etwas über die Mikroben, die unsere Nerven teilweise richtig stimulieren können. Der Darm prüft die Qualität unserer Nahrung, und er kann das auch auf seiner Ebene verarbeiten. Das ist ungewöhnlich und eben wie ein eigenes kleines Gehirn auf der Bauchebene. Deswegen nennt man das auch „Darmhirn“. Er kann entscheiden: Ist die Erbse jetzt so wichtig, dass das Gehirn Bescheid wissen muss oder kann ich das einfach selbst abmachen? Forschungsarbeiten zeigen, dass bei einer gestörten Darmbarriere negative Gefühle entstehen, wenn man den Darm reizt, die sich dann anfühlen wie Schuld oder Bestrafung. Daran macht man unter anderem die Hypothese fest, dass der Darm die Selbstwahrnehmung ganz zentral mitbestimmen kann. Auch Studien zu anderen Körperbereichen, wie den Muskeln oder dem Immunsystem, zeigen, dass unsere Gefühle und unser Denken ganzheitlicher sind und nicht nur im Gehirn angesiedelt.
Böhme: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Klarstellungen. Doch ich möchte noch etwas Wesentliches zur „großen Vernunft des Leibes“ hinzufügen. Ich meine die Mündigkeit des Patienten. Jedem von uns wird zugemutet, in Krankheitsdingen mitzuentscheiden. Das heißt also, Sie müssen insbesondere in dramatischen Fällen zustimmen zu dieser oder jener Behandlung, und sei es durch eine Patientenverfügung. Aber worin besteht denn eigentlich genau diese Mündigkeit des Patienten? Er kann doch gar nicht über Risiken und Nutzen einer Therapie exakt Bescheid wissen, das muss dann ja doch der Arzt entscheiden, oder? Worum es beim mündigen Patienten jedoch geht, ist die Erkenntnis: Diese oder jene Therapie passt zu mir. Und woher wissen wir das? Das ist die Frage des Leibes! Sie zu beantworten, heißt zu wissen, wie wir leben – und sterben – wollen. •
Mit ihrem Vortrag „Darm mit Charme“ gewann Giulia Enders 2012 einen Science Slam. Es folgte das gleichnamige Buch, veröffentlicht 2014 bei Ullstein, das zum Weltbestseller wurde. Die Illustrationen im Buch trug ihre Schwester, Jill Enders, bei. Giulia Enders arbeitet als Ärztin in Hamburg.
Gernot Böhme war einer der wichtigsten Phänomenologen des Landes. Die Achtung vor der Leiblichkeit des Menschen stand stets im Zentrum seiner Forschung. Zuletzt erschien von ihm zum Thema: „Leib. Die Natur, die wir selbst sind“ (Suhrkamp, 2019). Gernot Böhme verstarb am 20.01.2022.
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