Jacob Böhme und die Gelassenheit
Angesichts multipler Krisen verbreiten sich Misstrauen, Wachsamkeit und Nervosität. Der Mystiker und Philosoph Jacob Böhme vertrat als Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg dagegen die Auffassung: Was wir brauchen, ist Gelassenheit.
Wer von Gelassenheit spricht, sie gar als Tugend preist, macht sich verdächtig. Ist die Zeit nicht endgültig vorbei, in der man heiter und unbekümmert in die Welt blicken konnte? Es wäre aber verfehlt, Gelassenheit als lässige Gleichgültigkeit zu verstehen, aus der Untätigkeit, Blindheit und Bequemlichkeit resultieren. Niemand hat das besser unter Beweis gestellt als der Philosoph und Mystiker Jacob Böhme, dessen 400. Todestag in diesem Jahr gefeiert wird. In der kurz vor seinem Tod verfassten Schrift Von der wahren Gelassenheit (1622) beschreibt er Gelassenheit als etwas, um das „gerungen“ werden muss, „bis das finstere, harte verschlossene Zentrum zerspringt“. Die wahre Gelassenheit erweist sich so nicht als Rückzug in, sondern als Auszug aus der Innerlichkeit; als Zielpunkt einer emanzipatorischen Bewegung, die produktives Handeln qua Selbstgewinn überhaupt erst ermöglicht. Wer die Welt wirksam und zum Guten verändern will, so Böhme sinngemäß, der muss sich erst vom Joch der eigenen Verblendung befreien. Böhme selbst kennt die unauflösliche Ambivalenz der Gelassenheit; er widmet sich der Arbeit am eigenen Selbst und steht zugleich im Dauerstreit mit der Philosophie und Theologie seiner Zeit. Durch sein Aufbegehren gegen die herrschende Weltanschauung gilt er als ketzerischer Widerständler und wird als „falscher Prophet“ verschrien. Doch er verbrüdert sich ohnehin lieber mit der wissbegierigen Bevölkerung und zeigt sich darin protestantischer als der offizielle Protestantismus: „Meine Schriften dienen nicht für den vollen Bauch, sondern für einen hungrigen Magen. Sie gehören den Kindern des Geheimnisses, zumal in denselben viele edle Perlen verschlossen sind und auch offenbar liegen.“ Von kirchlichen Autoritäten gehasst, wird er mit Schreibverbot belegt und arrestiert. Doch der gewitzte Denker besitzt einflussreiche Freunde, die ihn unterstützen.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Der erste deutsche Philosoph
Jacob Böhme gehört zu den einflussreichsten Philosophen der Neuzeit. Hegel, Schopenhauer, deutsche Romantiker, amerikanische Freiheitskämpfer und russische Mystiker verehrten den Schuster aus Görlitz gleichermaßen. Heute vor 450 Jahren wurde er geboren.

Lob der Beunruhigung
Wenn es drunter und drüber geht, ist die richtige Welthaltung nicht Gelassenheit, sondern Unruhe. Nur sie verhilft uns zu jener Mischung aus Wachsamkeit und Offenheit, mit der wir Krisen meistern können.

Machen Krisen uns stärker?
Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, formuliert Friedrich Nietzsche. Aber woran entscheidet sich, ob wir an Schicksalsschlägen scheitern – oder reifen? Was unterscheidet gesunde Widerständigkeit von Verdrängung und Verhärtung? Machen Krisen kreativer? Ermöglichen allein sie wahre Selbstfindung? Oder wären solche Thesen bereits Teil einer Ökonomisierung des Daseins, die noch in den dunkelsten Stunden unserer Existenz nach Potenzialen der Selbstoptimierung fahndet?
Wolfram Eilenberger legt mit Nietzsche frei, wie man existenzielle Krisen nicht nur überleben, sondern für sich nutzen kann. Ariadne von Schirach singt dagegen ein Loblied auf den Menschen als ewiges Mangelwesen, und im Dialog mit dem Kulturtheoretiker Thomas Macho sucht Roger Willemsen nach dem Gleichgewicht zwischen beschädigter Existenz und Liebe zur Welt.
Giulia Enders und Gernot Böhme: Die Lehren des Leibes
Dass wir einen Körper haben, wird uns meist erst bewusst, wenn er schmerzt. Dabei ist er es, der die Antworten auf die großen Fragen der Existenz tief in sich trägt: Giulia Enders und Gernot Böhme über die Intelligenz des Darmes und Leibsein als Aufgabe.

"Wie erkennt man das Wesentliche, Herr Böhme?"
Künstliche Bedürfniserzeugung ist das Kerngeschäft des Kapitalismus. Und selbst der Minimalismus orientiert sich noch an der Warenwelt. Die Einfachheit, meint Gernot Böhme, ruht in uns selbst
Zum Tod des Philosophen Gernot Böhme
Der bedeutende Phänomenologe Gernot Böhme ist am Donnerstag unerwartet verstorben. Ein Nachruf von Svenja Flaßpöhler.

Hartmut Böhme: „Die Vernunft hat kein Feuer, kein Licht, keine Wärme“
Kants Philosophie lebt von der Ausgrenzung der Affekte. Die Lust kommt nur als Störfaktor vor – mit fatalen Konsequenzen, argumentiert der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme im Gespräch.

Wie geht Leibsein, Herr Böhme?
Der moderne Mensch meint, nur durch die Verfügungsgewalt über seine Natur frei sein zu können. Der Philosoph Gernot Böhme plädiert für ein fundamental anderes Verhältnis zu unserer leiblichen Existenz
