Nur mal kurz weg?
Wegen Korruptionsvorwürfen musste Sebastian Kurz als österreichischer Bundeskanzler jüngst zurücktreten. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass er wiederkommt. Nicht zuletzt, weil er eine neue Form des postmodernen Konservatismus kultiviert hat.
Schleichend, aber immer sichtbarer breitet sich eine verräterische Röte im Gesicht des sonst so kontrollierten Politikers aus. Unlängst war im österreichischen Tagesthemen-Äquivalent ZIB 2 eine Zäsur in Echtzeit zu beobachten: Nicht nur sah Sebastian Kurz sich genötigt, öffentlich zu den jüngst erhobenen Korruptionsvorwürfen Stellung zu beziehen. Nein, der das kühle Machtspiel sonst zur Perfektion beherrschende Bundeskanzler geriet vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer ins Schlingern. Auf das Entgleiten von Gesichtsfarbe und Gestik folgte dann alsbald auch Kurz' Rücktritt, worauf die Opposition wiederum einen Untersuchungsausschuss zur ÖVP-Korruption beantragte.
Konkret stehen folgende Vorwürfe im Raum: Von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wird Kurz und seinen selbsternannten „Prätorianern“ zur Last gelegt, seinen Weg ins Kanzleramt auf illegale Weise geebnet zu haben. Mit Steuergeldern sollen eine beschönigte Berichterstattung und frisierte Umfragen gekauft worden sein. Im Amt folgte auf Kurz nun Alexander Schallenberg; vormals Außenminister und enger Vertrauter von Kurz. Trotz der Schwere der Vorwürfe sah dieser jedoch keinen Grund zur Distanzierung. In Österreich ahnt man deshalb bereits: Kurz, der weiterhin als Partei- und Fraktionsvorsitzender der ÖVP fungiert, tritt nicht ab, sondern einstweilen nur zur Seite – und regiert als Schattenkanzler weiter.
Dabei belasten das „System Kurz“ nicht nur juristische Vorwürfe. Die im Zuge der Ermittlungen an die Öffentlichkeit gelangten Chatverläufe werfen auch moralische Fragen auf. Mehr noch: Sie offenbaren einen Politikstil, der die Demokratie, ihre Institutionen und Bevölkerung verachtet. Kurz weist unterdessen alle Vorwürfe von sich, er sei das unschuldige Opfer einer Hexenjagd. Und es ist nicht auszuschließen, dass ihm das viele Menschen abnehmen. Immerhin kostete Kurz schon 2019 die „Ibiza-Affäre“ seines damaligen Koalitionspartners die Kanzlerschaft. Doch blieb an ihm nichts haften, sodass er prompt wieder ins Amt gewählt wurde. Skandale scheinen die gesellschaftliche Legitimationsbasis des „Systems Kurz“ also nicht zwangsläufig zu gefährden.
Die Tat in den Tatsachen
Zumal im Fall von Kurz auch noch etwas anderes dazu kommt. Kaum ein Politiker wurde unter den europäischen Konservativen zuletzt so bewundert, ja bisweilen zum Vorbild stilisiert, wie er. Beeindruckte doch etwa viele deutsche Christdemokraten nicht nur Kurz schneidiges Auftreten und dessen imposante Wahlergebnisse, sondern auch die schiere Machtfülle, die er durch das Zuschneiden der ÖVP auf seine Person anhäufte. Stellten sich dementsprechend vor der aktuellen Korruptionsaffäre viele die Frage, worin das Erfolgsrezept des österreichischen Konservatismus à la Kurz liegt, geben die jüngsten Vorfälle in dieser Hinsicht wertvolle Einsichten.
Angesichts frisierter Umfragen und mutmaßlicher Korruption läge eine erste Antwort nahe: Das System Kurz wäre demnach ein Ausdruck des „postfaktischen Zeitalters“, in welchem Politik nicht mehr sachlich an der Wahrheit orientiert sei, sondern primär über Emotionen und Lügen funktioniere. Das würde allerdings zu kurz greifen. Denn was diese Zeitdiagnose ignoriert: Politik war – im Grundsatz – noch nie eine Praxis der Wahrheit. Das betonte Hannah Arendt bereits 1971 in ihrem berühmten Essay Die Lüge in der Politik in Bezug auf die Pentagon Papers. Vielmehr stehe die Politik mit der Wahrheit auf Kriegsfuß. Denn während Wahrheit in der Wissenschaft verhandelt wird, gehe es in der Politik um Erzählungen, die mit Emotionen arbeiten.
Dennoch bringt das 21. Jahrhundert eine entschiedene Neuerung für die Politik mit sich. Es setzt ein Prozess der Bewusstwerdung des konstruktiven Charakters der Welt ein. Gesellschaften verstehen allmählich, dass ihre Glaubenssätze und Ordnungen machtverwoben, historisch gewachsen und emotional getrieben sind. Oder pointierter gesagt: Die „Tat“ in den Tatsachen wird sichtbar. Diese Entwicklung, der mit Spätmoderne, Postmoderne oder reflexiven Moderne viele Namen gegeben wurden, ist allerdings nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Vielmehr sind zunächst soziale Zustände verhandelbar geworden. So ist etwa die Position der Frau nicht mehr natürlicherweise an die Grenzen des Privaten gebunden, sondern unterliegt sozialen Kämpfen. Logischerweise pluralisiert diese Erfahrung Wertesysteme und politische Meinungen. Eine allgemeine Politik der „one size fits all“ verliert dementsprechend an Zustimmung. Das bezeugt nicht zuletzt das europaweite Schrumpfen der (ehemaligen) Volksparteien. Vor allem sie leiden unter dem Zerfall milieuübergreifender Werte und der damit verbundenen Individualisierung.
Taktische Bürgerlichkeit
Das Machtkonzept konservativer Parteien basiert maßgeblich auf dem Hochhalten tradierter Ordnungsmodelle – Familie, Nation oder Religion – sowie dem damit einhergehenden Anspruch, die Allgemeinheit zu repräsentieren. Nur verblasst die Legitimationskraft eben dieser Ordnungsmodelle in der heutigen Gesellschaft immer mehr. Diese neue Situation hat einen um seine zerrinnende Macht kämpfenden „radikalisierten Konservatismus“ hervorgebracht, wie die Wiener Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl in ihrem aktuellen, gleichnamigen Buch dargelegt hat. Der radikalisierte Konservatismus versucht die brüchig gewordenen Werte des Konservatismus sowie die damit einhergehende Macht wieder zu gewinnen, indem er sich mit Ressentiments gespickten, rechtsreaktionären Narrativen bedient. Damit steht er im Gegensatz zu jenem pragmatischen, progressiv anschlussfähigen Konservatismus, wie in Angela Merkel exemplarisch verkörpert hat.
Allerdings: Der Konservatismus à la Kurz setzt nicht einfach aggressiv auf das Gestrige, sondern bespielt vielmehr bewusst die zu Tage tretenden zeitgenössischen Unsicherheiten für seine Ziele. Viele Konservative bewirtschaften strategisch die heute brüchig gewordene Grenze zwischen Wahrheit und Meinung. Eben das machen auch Kurz und seine Gefolgsleute, wenn sie das Faktum der veröffentlichten Chats oder der 104-Seiten langen Anklageschrift – ganz fernab ihrer noch zu klärenden juristischen Folgen – zu bloßen Meinungen linker Medienleute und Politbanden degradieren.
Diese Taktik ist in vielen westlichen Ländern zu beobachten. Man kennt sie von Donald Trumps Insistieren auf „alternative facts“ oder Victor Orbán. Sebastian Kurz geht indes noch einen Schritt weiter, indem er auch auf einer anderen Ebene einen „postmodernen Konservatismus“ erschaffen hat. Denn sein Politikstil prägt zuvorderst ein Primat der Form. Seine perfekt sitzenden Anzüge, das akkurate Lächeln und der wohltemperierte Duktus, kombiniert mit seinem jugendlichen, aber dennoch kompromisslos staatsmännischen Auftreten – das alles performt einen Habitus der idealen Bürgerlichkeit. Doch ist diese konservative Bürgerlichkeit eben vor allem das: Form. Inhaltlich ist sie hingegen vollkommen entleert. Anders als ein radikalisierter oder progressiver Konservatismus versucht Kurz nicht einfach „nur“ brüchig gewordene Werte zu restaurieren oder reformieren. Bei ihm findet sich vor allem ein taktischer, bloß performativer Bezug auf sie. Eine normative Selbstbindung durch Werte wie Anstand, Tugend und christlicher Nächstenliebe sucht man vergebens. Ebenso ein entsprechendes Maß an Selbstdistanz und Demut. Ja selbst das bürgerliche Insistieren aufs Leistungsprinzip wird durch die mutmaßlich gefälschten Umfragen und die Korruption aufs Äußerste unterlaufen. Das haben die öffentlich gewordenen Chats in einem ganz besonderen Maße entlarvt.
Blank geputzte Projektionsfläche
Dementsprechend kommt das System Kurz aber auch ohne politisches Programm aus. Es gibt schlichtweg nichts, wofür der Ex-Bundeskanzler durchgehend steht. Das kann man einem Orbán mit seinen Reinheitsfantasien der national-bürgerlichen Kleinfamilie indes nicht unterstellen. Sicher, auch Kurz nutzt bisweilen solche Bilder, aber vor allem surft er gekonnt auf öffentlichen Stimmungswellen. Somit war es ihm problemlos möglich, von einer Koalition mit der extrem rechten FPÖ in eine mit den Grünen zu wechseln. Denn: Sein Konservatismus verfolgt keine politischen Ziele, sondern ist vor allem eine selbstbezügliche Machtmaschine. Man denke hierbei nur an eine Nachricht des Kurz-Vertrauten Thomas Schmid: „Wer zahlt, schafft an. Ich liebe das.“
Doch genau diese Dominanz des formell gestützten Machtwillens bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit ist das Erfolgsrezept des Konservatismus à la Kurz: Er proklamiert keinen überkommenen Entwurf einer Allgemeinheit mehr, an dem sich individualisierte Bürgerinnen und Bürger stoßen könnten. Stattdessen bietet er eine blank geputzte Projektionsfläche für viele: Für Konservative, die sich eine Rückkehr zu Recht und Ordnung wünschen, aber auch für Liberale, die die dynamische Macherattitüde und die bürgerliche Form bewundern. Somit ist sein Konservatismus eine ideale Antwort auf unsere Zeit. Er wird gleichermaßen der Pluralisierung der zeitgenössischen Gesellschaft gerecht, wie er ihr eine durch die Ungewissheit leitende Führung verspricht.
Schlägt das Auftreten den Anstand?
Wie stilbildend Kurz damit ist, lässt sich auch mit dem grenzüberschreitenden Blick auf CSU-Chef Markus Söder sehen. Obschon dessen Selbstinszenierung habituell etwas andere Akzente setzt, da Söder sich vom einstigen Scharfmacher nun zum ökologisch inspirierten Landesvater gewandelt hat, offenbart sich der CSU-Vorsitzende ebenfalls vor allem als habituelle Projektionsfläche. Damit hält er sich nicht zuletzt für die Neuausrichtung der Union nach der Wahl bereit, die nicht selten inspiriert zum Nachbarn geschielt hat.
Die österreichische Justiz arbeitet derweil auf Hochtouren und auch der Untersuchungsausschuss wird neue Erkenntnisse bringen. Vor diesem Hintergrund bleibt für die österreichische Demokratie nur zu hoffen, dass dieses offensichtlich weitgesponnene Korruptionsnetz lückenlos aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Sollte Kurz in diesem Zuge indes nicht juristisch verurteilt werden, ist keineswegs ausgeschlossen, dass er in der Folge sogar zum dritten Mal zum Kanzler gewählt wird. Denn insofern sein Konservatismus eben vor allem Form ist, mag es mittlerweile womöglich auch ausreichend Wählerinnen und Wähler geben, die gar nicht mehr erwarten. Oder anders gesagt: Wenn schneidiges Auftreten jeden Anstand ersetzt, hätte das System Kurz sein Ziel vollends erreicht. •
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