Pico della Mirandola und der Mensch
Wir Menschen leben unter der Bedingung, „dass wir das sein sollen, was wir sein wollen“, meint der Renaissance-Denker Pico della Mirandola. Was das bedeuten soll? In unserer Rubrik Klassiker kurz erklärt helfen wir weiter.
Das Zitat
„Wir sind geboren worden unter der Bedingung, dass wir das sein sollen, was wir sein wollen.“
Über die Würde des Menschen (1486)
Die Relevanz
Wer bin ich? Kaum eine Frage lässt uns so rastlos wie diese. Auf Instagram entwerfen wir unsere Identität als makelloses Mosaikgebilde, erschaffen uns selbst, Kachel für Kachel. Unsere Lebensläufe, kuratiert wie Ausstellungen, unsere Persönlichkeiten, abgebildet in Likes und Streaming-Playlists. Und doch beschleicht uns ab und an der Zweifel: Kann ich mich wirklich in völliger Freiheit erfinden? Oder gibt es einen Plan, dem ich unbewusst folge, einen Ort, an den ich gehöre, ohne ihn selbst gewählt zu haben? Die Philosophen scheinen dabei zunächst kaum weiterzuhelfen: Existenzialisten sehen den Menschen als „zur Freiheit verurteilt“, niemand bestimme über das Individuum, das sich in jeder Sekunde selbst erfindet. Folgen wir dagegen den sogenannten Deterministen, dann sind wir weitgehend machtlos: Nicht wir würden über unser Los entscheiden, vielmehr seien es die sozio-ökonomischen Umstände oder neurobiologische Impulse, die unser Wesen lenken und fixieren. Seit Jahrhunderten währt das Ringen des Menschen um die Bestimmung seiner selbst. Eine der revolutionärsten Antworten formulierte dabei der 23-jährige Renaissance-Denker Pico della Mirandola. Bestimmt jemand oder etwas anderes als wir selbst darüber, wer wir seien sollen? Oder sind wir das Werk unserer eigenen freien Schöpfung, unterworfen nur unserem Gestaltungswillen? Weder noch und beides zugleich, so antwortet Pico. Wir sind bestimmt durch ein höheres Wesen. Doch dieses Wesen bestimmt uns zur Freiheit.
Die Erklärung
Die menschliche Existenz ist eine Aneinanderreihung von Mühsal, Verlockung, Elend und Tod. Diese Auffassung prägt das christliche Denken bis in die Neuzeit hinein. Der Mensch habe seinen festen Platz inmitten der Verdammten dieser Erde, inmitten der Misere, aus der ihn allein göttliche Gnade erlösen könnte. Lange Zeit fehlt von der Vorstellung eines Individuums, das sich in freier Manier selbst entwirft, jedwede Spur. Doch genau ein solches schöpferisches Subjekt verkündet Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen. Zuerst hat Gott den Tieren, den „niedersten“ Wesen, und den Engeln, den „höchsten“, ihren angemessenen Ort zugewiesen. Der Mensch dagegen ist „ohne festen Wohnsitz“ in die „Mitte der Welt gestellt“. Diese Verortung bedeutet Verlorenheit und Freiheit zugleich: Es ist ganz dem Menschen überlassen, ob er „zum Tierischen entarte“ oder „zum Göttlichen“ strebt. Und gerade darin, dass der Mensch sich selbst sein „eigener, in Ehre frei entscheidender Bildhauer“ ist, gründet seine Würde. Doch heißt das nun, der Mensch erschafft sich voraussetzungslos aus dem absoluten Nichts? Nicht ganz, denn wir betreten die Bühne unseres Daseins mit einem inneren Auftrag: Wir sind nicht zur Freiheit verurteilt. Wir sind zu ihr bestimmt. Anders als bei den Existenzialisten im 20. Jahrhundert findet sich der Mensch bei Pico nicht bedingungslos in die Welt geworfen, ohne Orientierung und Trost. Dem Renaissance-Denker zufolge ist seine Freiheit vielmehr ein Geschenk, das den Menschen zum größten „Wunder“ auf der „irdischen Bühne“ mache. Und es ist ganz gleich, wie wohlüberlegt wir mit diesem Geschenk umgehen. Wir sind und wir bleiben: die Kreatur, die die Wahl hat. •
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