Rainer Forst: „Solidarität ist kein Wert an sich“
Durch Flaggen, Appelle oder Konzerte bekunden derzeit viele ihre Solidarität mit der Ukraine. Doch was ist Solidarität überhaupt? Der Philosoph Rainer Forst plädiert dafür, Solidarität auf der gemeinsamen Menschenwürde zu gründen, und mahnt, dass der Begriff als ideologische Fabrikation gerade in Kriegszeiten auch eine Gefahr sein kann.
Herr Professor Forst, im Moment hört man immer wieder die Forderung: „Stand with Ukraine“ – was ist Solidarität überhaupt?
Solidarität ist die Bereitschaft, für andere im Sinne einer gemeinsamen Sache beziehungsweise eines geteilten Ziels einzutreten und einzustehen. Aber anders als oft vermutet wird, ist Solidarität kein Wert an sich. Was sie erfordert, ergibt sich erst aus der Kombination mit anderen Werten oder Prinzipien, von der Befreiung einer Klasse oder eines Landes bis hin zur Beförderung der Gerechtigkeit und der Menschenrechte – wobei sich Befreiungskämpfe und der Kampf um Rechte keinesfalls ausschließen, wie man derzeit sieht. Was Solidarität bedeutet, hängt von anderen normativen Quellen ab, aber diese können auch trüb sein, wie nationalistische oder chauvinistische Solidaritätsformen zeigen.
Wenn Solidarität kein Wert an sich ist, wovon hängt sie dann ab? Auf welchen Gründen beruht sie aktuell?
Auf unterschiedlichen Gründen – für manche auf der Menschenwürde ohne Differenz des Passes oder der Herkunft. Viele begründen in der jetzigen Situation hingegen die Solidarität spezifischer, etwa über das geteilte Europäersein. Hier muss man genauer hinschauen. Die Demokratie etwa, die hier auch auf dem Spiel steht, ist kein rein „europäischer Wert“; demokratische Selbstbestimmung ist vielmehr ein Menschenrecht. Wieder andere begründen Solidarität religiös, zum Beispiel über das geteilte Christentum. An einem bestimmten Punkt kann solche Differenzierung in Diskriminierung umschlagen, und es werden Menschen an Grenzen aussortiert und rechtsradikale Parteien wie die AfD drängen darauf, nur „echte“ Ukrainer*innen aufzunehmen. Aus Sicht einer universalistischen Moral ist das skandalös. Der Skandal ergibt sich, wenn Solidaritätsbegründungen in Frage stellen, was Menschen als Menschen geschuldet wird; die enggeführte Solidarität überlagert dann eine andere, grundlegendere.
Was glauben Sie? Haben wir eine moralische Pflicht, mit Menschen aus der Ukraine solidarisch zu sein?
Ich denke ja, denn ich finde, dass eine universalistische Moral eine Quelle der Solidarität sein kann und auch sein sollte. Es sind das gemeinsame Menschsein und die Menschenwürde, die es uns auferlegen, anderen, die in Not und Bedrängnis sind, solidarisch zu helfen. Zur rein materiellen Not der Menschen kommt in diesem Fall hinzu, dass sie das Opfer schreiender Ungerechtigkeit sind und nicht etwa einer Naturkatastrophe. Es verbinden sich hier folglich moralische und politische Motive, die moralischen aber sind ausschlaggebend. Und je näher diejenigen uns sind, geographisch gesprochen, die Not leiden und die gequält und unterdrückt werden, umso mehr sind wir zur tätigen Solidarität aufgerufen – auch, wenn es etwas kostet. Dafür bedarf es keiner weiteren Verbindung, was nicht heißt, dass die Geschichte dabei ganz ausgeblendet werden muss.
Was muss Solidarität kosten? Die Reise einiger Staatschefs ins Kriegsgebiet gilt vielen als Akt der Solidarität, während die Bestrahlung von Gebäuden oder der Verkauf von blau-gelben Kuchen als scheinheilig kritisiert wird. Wie viel „Skin in the Game“ braucht ernst zu nehmende Solidarität?
Es gibt natürlich Formen nur gespielter Solidarität, die wohlfeil sind. Aber man sollte auch nicht vorschnell symbolische Akte als scheinheilig diffamieren. Richtig ist, dass sich echte Solidarität im Tun bewähren muss, aber den Punkt genau zu bestimmen, wieviel Kosten Einzelne tragen müssen, ist sehr schwer. Da gibt es einen Spielraum zwischen dem, was die Gemeinschaft erwarten kann, und der Bereitschaft, über das Geforderte hinauszugehen. Generell gilt der Grundsatz, dass die gezeigte Solidarität der gemeinsamen Sache, hier der realen Not, die abzuwenden ist, angemessen sein muss.
Muss man vielleicht sogar seine Überzeugungen hinterfragen und über Bord werfen? Viele Menschen in der Ukraine fordern mehr Waffenlieferungen, ein verstärktes Eingreifen der NATO oder die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union. Folgt aus Solidarität, sich selbst hinter solche Forderungen zu stellen beziehungsweise ihnen stattzugeben?
In der Tat bricht dieser Krieg anders als andere Konflikte der letzten Jahre in die politische Vorstellungswelt Europas mit Wucht ein. Die brutale Aggression zeigt ihr hässliches Gesicht, mit jedem Tag wächst das Grauen über die schrecklichen Bilder und Schicksale der Opfer. Und der verzweifelte Präsident der Ukraine bittet, fleht, fordert und kritisiert, was er als Untätigkeit ansieht. Die volle Tragik der Situation aber besteht darin, dass man einerseits tun muss, was verantwortbar ist, um dem Recht der Ukraine auf politische Selbstbestimmung und Selbstverteidigung im Rahmen des Völkerrechts zur Geltung zu verhelfen, dass aber andererseits durch ein Eingreifen nicht noch größere gewaltsame Konflikte entfacht werden dürfen. Denn die würden viele weitere Unbeteiligte treffen. Dazu hat niemand das Recht und die Autorität. Solidarität muss verantwortlich praktiziert werden.
Die große Welle an Solidarität, die wir aktuell beobachten, wirft auch die Frage auf, mit wem wir in den letzten Jahren und auch in der Gegenwart nicht ebenso solidarisch waren und sind. Haben wir es 2015 und heute mit unterschiedlichen Konzeptionen von Solidarität zu tun?
Es gibt, wie gesagt, viele unterschiedlich motivierte Formen von Solidarität. Im Vergleich zu 2015 gibt es wichtige Überschneidungen und auch Unterschiede: gemeinsam ist die Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen, die vor Krieg und Unterdrückung fliehen. Etwas weniger bereit sind leider viele, Menschen zu helfen, die vor Armut fliehen, obwohl auch dieser Fluchtgrund nur allzu verständlich ist. Wir sehen, wie sich zudem die Solidaritätsringe schließen, wenn ethnische, nationale oder religiöse Gründe ins Spiel kommen. Da schlägt der Grundsatz, dass die, die näher an dem Ort des Geschehens dran sind, mehr Hilfe leisten müssen, in die Abgrenzung gegen Nichteuropäer*innen um, als ginge es um Verwandtschaftsverhältnisse. In solchen Krisen zeigt sich neben der moralischen Solidarität leider auch der Hang zur Xenophobie, der tief in unseren Gesellschaften sitzt, und wird toxisch. Dann schleicht sich in den Aufruf zu menschlicher Hilfe die Unmenschlichkeit der Selektion ein – ein dialektischer Umschlag, mit den Worten Kritischer Theorie gesagt.
Ist diese Selektion die Schattenseite der Solidarität?
Nach den Vorgaben der Menschenrechte und des internationalen Asylrechts muss eine universalistisch begründete Solidarität inklusiv sein. Selektion verbietet sich. Aber der Begriff der Solidarität ist ambivalent, und oft folgt ihm ein Schatten. Solidarität wird, wenn sie ideologisch fabriziert wird, siehe die russische Propaganda, hoch gefährlich. Der Nationalismus lebt von aggressiven Solidaritätsappellen, und kein Krieg kann ohne sie geführt werden. Das weiß auch Putin.
Entsteht ein Spannungsfeld zwischen Solidarität und Toleranz? Bin ich noch solidarisch mit der Ukraine, wenn ich eine Oper von einem russischen Dirigenten anschaue? Oder müssen wir russischen Kunstschaffenden gegenüber tolerant sein?
Wir bewegen uns entlang der diskriminierenden Implikationen der Solidarität auf einem gefährlichen Weg. Antirussische Ressentiments nehmen schnell zu, bis hin zu offener Aggression. Das ist ungerechtfertigt und gefährlich; eine ungute Dialektik von Solidarität und Engstirnigkeit. Wir müssen das, was in Russland geschieht, differenziert betrachten. Ein Generalverdacht gegen Russ*innen oder gar russische Kunst und Kultur insgesamt ist vollkommen unangebracht. Die Geschichte solcher Generalverurteilungen in Kriegszeiten überall auf der Welt ist lang und beschämend. Toleranz freilich setzt voraus, dass ich etwas respektiere, was ich eigentlich ablehne, deshalb kommt sie nicht schon dort ins Spiel, wo ein Dirigent aus Russland stammt. Wieso soll das ein Problem sein? Bloße Herkunft ist kein sinnvoller Ablehnungsgrund. Ein Fall der Toleranz entsteht erst dann, wenn der Dirigent sich inakzeptabel äußert, und auch dann muss ich mir noch überlegen, unter welchem Druck er möglicherweise steht. Man muss auch in solchen Zeiten seine Urteilskraft bewahren. Dieser Krieg ist schrecklich und ein Verbrechen, aber das heißt nicht, dass die Welt um uns herum vorschnell in Freund und Feind eingeteilt werden muss. Wir dürfen die Logik des Krieges nicht unser Denken dominieren lassen. •
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie und Direktor des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2012 zeichnete ihn die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit dem Leibnizpreis aus. Veröffentlichungen u.a. „Das Recht auf Rechtfertigung“ (Suhrkamp 2007), „Die noumenale Republik“ (Suhrkamp 2021).
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Kommentare
der Satz war wohl notwendig, um dieses Unmodewort noch unterzubringen?