Ralf Konersmann: „Die Moderne hat die Überschreitung normalisiert“
Das Maß stand einst für eine ganzheitliche Ethik. In der Moderne jedoch weicht das Maß dem Messen und der Maßlosigkeit. Ein Gespräch mit dem Philosophen Ralf Konersmann über Camus’ Rückgriff auf antike Gedanken und die Gefahren einer vermessenen Welt.
Philosophie Magazin: „Der Mensch in der Revolte“ erscheint 1951. Camus hat seine Überlegungen zur Maßethik nicht zuletzt angesichts eines Jahrhunderts geschrieben, das zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Weltkriege hinter sich hat. Gewinnen seine Überlegungen zum Maß angesichts des Ukrainekriegs wieder an Brisanz?
Ralf Konersmann: Camus stammte aus Algerien. Er wusste, was es heißt, in einem besetzten Land zu leben. Weitergegeben hat er diese Erfahrung in seinen Artikeln für Combat, die Zeitschrift der Résistance, aber auch und besonders eindrucksvoll in seinem literarischen Werk. Sein Romantorso „Der erste Mensch“ verschwendet kein Wort an die europäischen Besatzer, und allein dieses Beschweigen sagt etwas aus. Camus erzählt von den Kabylen, von ihrer Klugheit und fraglosen Tapferkeit. Es ist ihre Lebensweise, die sie bestärkt und die Besatzer in ihrer ungeheuren Anmaßung beschämt.
Was versteht Camus denn unter dem Maß?
Das Maß gibt eine bestimmte Weise des menschlichen Weltbezugs vor. Während sich die Moderne in die Vorstellung hineingelebt hat, dass der Mensch vor der Welt steht – also selbst das Subjekt ist und die Welt das Objekt –, sieht die Ethik des Maßes den Menschen in seiner Welt und als Teil von ihr. Ich denke, das ist der Akzent, der auch für Camus entscheidend ist. Dieses Motiv des unvorgreiflichen Dazugehörens nennt er auch „Denken der Grenze“. Das Maß zeigt sich in der Respektierung dieser Grenze. Der Mensch in der Moderne, so lautet Camus’ Kritik, hat diese Grenze mutwillig überschritten – durch territoriale Ausdehnung, durch industriekapitalistische Überschreitung, durch Vernichtung und Krieg.
Camus bezeichnet die Maßethik auch als „mittelmeerisches Denken“. Warum?
Das Mittelmeer fungiert bei Camus als zeitloser Referenzraum, als Gegenwelt zu derjenigen Art des forcierten Modernismus, die jedes Maß verloren hat. Seine Maßethik greift auf antikes Gedankengut zurück, und das Mittelmeer bildet gleichsam die Brücke zwischen den Zeiten. Die Völker, die rund um das Mittelmeer leben, haben, wie er sagt, Spuren des antiken Lebensgefühls bewahrt. Entscheidend für die Idee des Maßes ist die Vorstellung eines Lebens im Einklang mit der Welt. Mit Blick auf das Mittelmeer spricht Camus von Ungezwungenheit, von Freude, von der Verschwisterung von Geist und Licht.
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