Rettet das Zwitschern
Vielleicht sind Vögel die philosophischsten Tiere überhaupt: weil sie sich nah an unserer Wahrnehmung bewegen und diese auch noch im Flug erweitern. Nicht zuletzt deshalb müssen sie vor dem Aussterben bewahrt werden.
Wir leben in der Zeit des größten globalen Artensterbens seit dem Verschwinden der Dinosaurier. Während aber die Dinosaurier einer Naturkatastrophe zum Opfer fielen, ist das aktuelle Artensterben allein eine Folge menschlicher Handlungen. Die Zahlen sind eindeutig: Nach einer 2014 veröffentlichten Studie gab es in Europa im Jahr 2009 rund 421 Millionen Vögel weniger als 30 Jahre zuvor. Das bedeutet einen Rückgang von 20 Prozent in drei Jahrzehnten.
Und das sind nur einige der Zahlen, die Peter Berthold, Zugvogelforscher und ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie, in seinem Buch „Unsere Vögel“ zusammenträgt. Berthold beschreibt zuerst anschaulich, warum Vögel unter Menschen von allen Tiergruppen die größte Zuwendung erfahren. Vögel bewegen sich in unseren Wahrnehmungsbereichen. Man sieht sie leicht, und wenn man sie nicht sieht, kann man sie hören. Manche singen, wie Amseln etwa, auch noch so, dass sie sich in unsere klanglichen Harmoniebedürfnisse einfügen. Es war Adorno, der im Gesang der Amsel die ganze Ambivalenz des Naturschönen – das Anrührende und das Schreckliche – als Teil des Mythos beschrieben hat.
Bertholds Verdienst besteht nun darin, dass er auch für Laien nachvollziehbar argumentiert: So zeigt er am Arten- und Individuenschwund, dass keines dieser Probleme neu ist. Die Ausräumung der Landschaft durch die industrialisierte Land- und Forstwirtschaft wird seit 150 Jahren beklagt. Und die Geschichte des Natur- und Artenschutzes lehre, dass die Maßnahmen von Staat und Politik zur Rettung der Artenvielfalt über feuerwehrartige Ansätze nie hinausgekommen seien. Berthold plädiert deshalb für eine „Bürgerwissenschaft“ – englisch: „Citizen Science“ –, deren erste Aufgabe es sein muss, den Unterschied zwischen Profis und Laien aufzuheben. Seine Tipps, wie jeder gleich mit der Erhaltung der Artenvielfalt im Garten oder am Balkon anfangen kann, liefern praktischerweise auch Anschauungsmaterial, wie eine Citizen Science aussehen könnte; wobei dem Ornithologen bewusst ist, wo die Grenzen und Hindernisse liegen.
Wie komplex diese Hindernisse sein können, davon erzählt Helen Macdonald in ihrer Vogelbiografie „Falke“. Macdonald hat dabei das doppelte Glück, dass sie mit dem Wanderfalken die Geschichte eines Vogels erzählen kann, der schon einmal vor dem Aussterben stand, und das gerade auch, weil er als „Herrschaftstier“ in den aristokratischen Symbolhaushalt menschlicher Machtphantasmen eingegangen war. Es war nämlich so, dass „Laien“, also Hobbyornithologen, schon in den fünfziger Jahren Berichte über das Verschwinden der Falken veröffentlicht hatten, die nur nie in der professionellen Wissenschaft ankamen, weil der Vogel an der Spitze der Nahrungskette als „unverwundbare Spezies“ galt. „Die altbekannte romantische Sichtweise, wonach der Falke die ‚Verkörperung wahrer Majestät‘ sei, wurde nunmehr wissenschaftlich untermauert“, resümiert Macdonald diese Episode eines strukturell schwachsinnigen Professionalismus.
Man merkt an solchen kritischen Stellen im Buch, dass die Autorin, die mit ihrem Bestseller „H wie Habicht“ bekannt geworden ist, in Cambridge am Institut für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften arbeitet, und das ist sehr angenehm. Ermutigend ist die Geschichte der Wanderfalken aber auch, weil die Vögel mittlerweile von der Liste der bedrohten Tierarten gestrichen werden konnten. Es waren die aus Laienbeobachtungen entstandenen Proteste, die am Ende zum Verbot von Agrochemikalien wie DDT führten. Und die Vögel selbst? In den Hochhausschluchten von New York suchten sie sich neue Lebensräume und passten ihre Jagdtechniken der neuen Umwelt an.
Dass die Wanderfalken aber nur ein Fall von vogelseits neu gefundenen Lebensmöglichkeiten sind, erklärt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Jennifer Ackerman in „Die Genies der Lüfte“. Ackerman besuchte Ornithologen von Barbados bis Neukaledonien – und liefert eine Bestandsaufnahme der Verhaltens-, Neuro- und Kognitionswissenschaft der Vögel, die keine Wünsche offen lässt. Erschrecken kann einen in diesem Buch lediglich die Praxis von Vogelüberwachungstechniken, die hoffentlich nicht der Anwendung am Menschen dienen.
Aber ganz gleich ob Mensch oder Vogel: Entscheidend ist die Erkenntnis, dass man der Kreatur nur helfen kann, wenn eine gesellschaftliche Vermittlung stattgefunden hat, wie der Philosoph und Literaturwissenschaftler Timothy Morton in seiner Kritik des unpolitischen Ökologismus schreibt. Die schöne Seele könne nicht in alle Ewigkeiten weiter den romantischen Traum vom Eintauchen in die Natur träumen, der uns am Ende eben gerade von der Natur fernhalte, führt Morton in „Ökologie ohne Natur“ aus. Quer durch die Philosophie- und Literaturgeschichte analysiert er die Wurzeln von „Naturbegriff “ und „Umweltsprache“ – und fordert eine radikale Politisierung: „Wir sind in der Talsohle angekommen, und damit fängt unser ökologisches Leben erst an.“ Es sei Zeit aufzuwachen, den von uns angerichteten Schlamassel zur Kenntnis zu nehmen und die alten Naturvorstellungen zu begraben. Mit diesen vier Büchern gelingt das hervorragend.