Revolte im Baumhaus
Junge Menschen leben in Baumhäusern nahe dem Tagebau Garzweiler II. Andere gehen auf die Straße, um sich gegen die Absurdität der politischen Gegenwart aufzulehnen. Wie hätte Albert Camus auf diese Proteste geblickt? Eine Spurensuche mit Luisa Neubauer, Ronni Zepplin, Iris Radisch und Lou Marin.
Etappe 1: Was ist ein Mensch in der Revolte?
Vom Bahnhof der Kleinstadt Erkelenz im tiefsten Westen Deutschlands sind es zehn Kilometer durch die Felder nach Lützerath. Die Fahrradreifen rutschen über halbgefrorene Pfützen und bleiben im Matsch stecken. Wenige Wolken stehen hoch am Himmel, der Wind bläst mit voller Kraft über das flache Land. Am Eingang zum Protestcamp sitzt eine junge Frau auf einer Barrikade aus Baumstämmen, Paletten und Bauzaun. Dahinter eröffnet sich eine eigene Welt. Auf einem matschigen Platz, der im Sommer vielleicht eine Wiese ist, hat sich ein Dorf aus Baumhäusern, bunt bemalten Hütten, Wohnwagen und Zelten gebildet. Manche Unterkunft ist provisorisch mit Campingplanen, Autoreifen und Flatterband zusammengeschustert, andere ist aufwendige Feinarbeit mit Solarplatten und eingebauten Fensterscheiben hoch oben in den Wipfeln. Das bürgerliche Leben wird hier karikiert: „Doppelhaushälfte“ hat jemand auf seine Holzhütte geschrieben. Einige Bewohnerinnen stehen nach einer kalten Nacht in der Morgensonne und trinken Kaffee.
Auf den ersten Blick wirkt der Ort wie eine Mischung aus den Abenteuern der Kinderbande Die Wilden Kerle und dem Aussteigerparadies im Film The Beach mit Leonardo DiCaprio. Doch das Hüttendorf ist kein privates Unterfangen. Hier leben seit eineinhalb Jahren Klimaaktivistinnen. Den Grund dafür haben sie mit gelber Schrift auf ein großes rotes Banner geschrieben: „Lützi verteidigen“. Das Dorf Lützerath liegt am Rande des Braunkohletagebaus Garzweiler II südlich von Mönchengladbach. RWE plant, es zusammen mit dem Nachbardorf Immerath abzureißen, um den Tagebau auszuweiten. Die Hälfte des Dorfes wurde bereits in den Boden gestampft. Neben den Aktivistinnen lebt nur noch ein einziger Grundbesitzer hier, der Bauer Eckardt Heukamp. Er bewirtschaftet seinen Hof in vierter Generation. Zwischen ihm und den Aktivistinnen hat sich eine ungewöhnliche Symbiose gebildet. Heukamp gilt als Eigenbrötler, der nicht einsieht, seinen Hof aufzugeben. In seinem einsamen Kampf gegen den Großkonzern RWE ist er zum ungewollten Helden der Klimabewegung geworden. Ende März 2022 hat das Oberverwaltungsgericht Münster nun die Entscheidung getroffen, dass RWE ihn vorzeitig enteignen und sein Land abbaggern darf. Bauer Heukamp hat den Neuankömmlingen vor eineinhalb Jahren eine Wiese zum Zelten überlassen, inzwischen wohnen um die 150 Menschen im permanenten Camp. Die Aktivistinnen haben das ehemalige Dorf zu einem politischen Ort gemacht, die noch übrigen Häuser bemalt und Flaggen gehisst. Lützerath ist nach dem Hambacher Forst zu einem neuen Mittelpunkt der deutschen Klimagerechtigkeitsbewegung geworden. Ist das Leben hier ein Beispiel dessen, was Camus im Sinn hatte, als er von der permanenten Revolte sprach?