Robin Celikates: „Wir sind Zeugen eines ideologischen Kampfes, der mit allen Mitteln ausgetragen wird“
Die Critical Race Theory sorgt derzeit für kontroverse Debatten: notwendiger Weckruf an eine tief rassistische Gesellschaft oder Angriff auf demokratische Grundwerte? Der Philosoph Robin Celikates gibt im Interview einen Überblick über eine der wichtigsten Theorien der Gegenwart.
Herr Celikates, besonders in den USA sorgt die Critical Race Theory derzeit für aufgeheizte Debatten. So wurde diese in Bundesstaaten wie Florida oder Idaho mittlerweile sogar aus dem Unterricht verbannt? Worum handelt es sich bei dieser Theorie?
Man muss zwischen einer engeren und einer weiteren Bedeutung von Critical Race Theory (CRT) unterscheiden. Im engeren Sinn handelt es sich um eine Theorieströmung, die sich in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft der 1980er- und 1990er Jahre entwickelt hat. Derrick Bell, Kimberlé Crenshaw und Mari Matsuda sind hier zentrale Autor*innen. Ihnen ging es vor allem darum zu zeigen, dass auch lange nach Abschaffung der Sklaverei, lange nach der Bürgerrechtsbewegung und der Aufhebung der „Rassentrennung“ massive Ungleichheiten fortbestehen, die insbesondere Schwarze in den USA systematisch benachteiligen in verschiedensten Lebensbereichen, von der Schulbildung über den Arbeitsmarkt bis zum Risiko, Opfer von Polizeigewalt zu werden oder an COVID-19 zu erkranken. Recht und Staat sind in diesem Kontext keine neutralen Instanzen, die das Gemeinwohl und die Rechte aller sichern, so die Kernthese der CRT, sondern spielen eine wesentliche Rolle bei der Reproduktion und Verschleierung rassistischer Ungleichheiten. In der weiteren Bedeutung bezieht sich das Label CRT – heute wird manchmal auch von Critical Philosophy of Race gesprochen – auf eine weiter zurückreichende und nicht auf die Rechtswissenschaft beschränkte Tradition der Theoriebildung, die in einem mehrfachen Sinn kritisch ist, nämlich als Kritik an komplexen Herrschaftsverhältnissen und den rassistischen Überzeugungssystemen, Praktiken, Institutionen und Strukturen, die sie stützen, als Kritik an den darin zum Ausdruck kommenden naturalisierenden und hierarchisierenden Unterteilungen der Menschheit in rassifizierte Gruppen, und als Kritik an der weitverbreiteten Leugnung der Realität rassistischer Unterdrückung in wissenschaftlichen und alltäglichen Diskursen.
Gibt es bestimmte Denkerinnen und Denker, die für die Critical Race Theory besonders wichtig sind?
Es handelt sich um eine ziemlich komplexe und auch durchaus heterogene Tradition, vor allem, wenn man die weitere, theoretisch und diagnostisch interessantere Bedeutung zugrundelegt. Zu den einflussreichsten Denker*innen werden für gewöhnlich gezählt: der US-Amerikanische Soziologe, Aktivist und öffentliche Intellektuelle W.E.B. Du Bois, der die strukturellen Ursachen der desolaten sozio-ökonomischen Situation vieler Schwarzer und die beharrlichen, weil tief verwurzelten und habitualisierten, zugleich aber auch dynamischen, weil anpassungsfähigen rassistischen Ideologien auf Seiten der weißen Mehrheit analysierte; der frankophone antikoloniale Denker und Kämpfer Frantz Fanon, der die zerstörerischen Effekte des Rassismus auf Psyche und Selbstbild der Unterdrückten und die Notwendigkeit einer Dekolonisierung der eigenen Identiät sowie der äußeren Verhältnisse betonte; und Schwarze Feministinnen wie Angela Davis und Patricia Hill Collins, die das Ineinander multipler Formen der Unterdrückung entlang von „class, race and gender“ in den Blick rückten. Bell, Crenshaw, Matsuda und andere haben dann genauer gezeigt, wie US-amerikanische politische und rechtliche Institutionen nicht nur daran scheitern, die ihnen zugrundeliegenden Versprechen einzulösen, sondern aktiv dazu beitragen, dass sich rassistische Herrschaftsverhältnisse reproduzieren.
In „Critical Race Theory“ steckt auch der Begriff „Kritische Theorie“. Welche Verbindung gibt es von W.E.B Du Bois und Frantz Fanon zu Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas?
CRT und Kritische Theorie teilen den Anspruch, im Anschluss an die emanzipatorischen Kämpfe und Bewegungen ihrer Zeit eine Analyse und Kritik der Gesellschaft zu entwickeln, die zur sozialen Transformation beiträgt. Es ist daher kein Wunder, dass die CRT im engeren, rechtswissenschaftlichen Sinn durchaus beeinflusst ist durch Strömungen der kritischen Theorie in der Tradition des Marxismus und Autoren wie Gramsci. Und zwischen der CRT im weiteren Sinn und anderen kritischen Theorien wie Marxismus und Feminismus hat es natürlich immer auch wechselseitige Einflüsse gegeben. Allerdings hat die Kritische Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule bis vor kurzem kaum Kenntnis genommen von Paradigmen wie der CRT oder auch der postkolonialen Theorie. Für eine gewisse Öffnung haben Arbeiten von Thomas McCarthy, Amy Allen und Eduardo Mendieta gesorgt. Natürlich hätte es eigentlich genügend Anlass und auch mögliche Anknüpfungspunkte auf Seiten der „Frankfurter“ für eine Zusammenführung der Traditionen gegeben; gerade in der ersten Generation drehten sich Analyse und Theorie der Gesellschaft ja um die „dunkle Seite“ der Moderne und insbesondere Faschismus und Antisemitismus. Später, von Habermas bis Honneth, findet sich ein relativ starkes Vertrauen nicht nur in die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution, sondern auch darin, dass die Gesellschaften des Westens diese Werte auch einigermaßen weitgehend umgesetzt haben. Das hat vermutlich dazu geführt, dass der Einspruch der CRT nicht wahrgenommen oder aufgegriffen worden ist. Dieser Einspruch besagt gerade, dass die in den liberal-demokratischen Gesellschaften realisierten Formen der Freiheit und der Solidarität nicht nur kontingenterweise mit Ausschlüssen, insbesondere rassifizierter Gruppen einhergehen, als seien diese Werte bisher nur unzureichend realisiert worden und müssten nun nur noch ausgedehnt werden auf die bisher Ausgeschlossenen. Vielmehr ist die These, dass diese Ausschlüsse in der Geschichte dieser Gesellschaften eine wesentliche Rolle gespielt haben und sie bis heute prägen, und dass wir deshalb ganz andere, tatsächlich inklusive Vorstellungen des Zusammenlebens in Freiheit und Solidarität entwickeln müssen. Das ist eine Fundamentalkritik von Ausschluss und Diskriminierung sowie der verzerrten Vorstellungen von Freiheit und Solidarität, die erstere legitmieren, aber diese Fundamentalkritik erfolgt gerade im Namen radikaler, radikal inklusiver und egalitärer Freiheit und Solidarität. Hier gibt es natürlich auch wieder interessante Konvergenzen mit Marxismus, Feminismus und radikalen Strömungen der Kritischen Theorie.
Ihren Ursprung nahm die Theorie also im engeren Sinne in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft der 1970er-Jahre und sieht Rassismus als historisch gewachsenes, gesamtgesellschaftliches Phänomen, welches Machtstrukturen ausdrückt und die Ungleichbehandlung von Menschen durch diskriminierende Rechtsnormen legitimiert. Inwiefern lässt sich die Critical Race Theory durch ihren starken Bezug auf die US-amerikanische Geschichte dann allerdings überhaupt für hiesige Kontexte fruchtbar machen?
Es stimmt natürlich, dass Theorien durch die historischen, sozialen und politischen Kontexte geprägt sind, in denen und für die sie entwickelt werden. Allerdings zirkulieren Theorien immer auch über Kontexte hinweg und diese Kontexte sind – gerade im Fall des Rassismus – ja zudem durch vielfältige historische Verschränkungen, Berührungspunkte und transnationale Dynamiken gekennenzeichnet. Aus dieser Verstrickung kann sich auch und gerade Deutschland nicht herausziehen, auch wenn es hierzulande lange Zeit üblich war, jeglichen Diskurs über Rassismus abzuwehren mit dem Verweis, Rassismus gebe es nur in den USA, in Südafrika und damals bei den Nazis oder wenn überhaupt dann am rechtsextremen „lunatic fringe“, aber sicher nicht in der Mitte der Gesellschaft. Insbesondere die lange marginalisierte deutsche Rassismusforschung und die kritische Migrationswissenschaft haben dazu beigetragen, dass heute auch in Deutschland über Rassismus gesprochen wird und dass dabei auch spezifische Konstellationen etwa des anti-migrantischen und anti-muslimischen Rassismus in den Blick kommen, die in der Perspektive der CRT bisher keine sehr zentrale Rolle gespielt haben. Allgemein gilt aber: Um die soziale Realität des Rassismus zu verstehen, sollte man auf alle verfügbaren wissenschaftlichen und theoretischen Ressourcen zurückgreifen, und zu denen hat die CRT ganz Wesentliches beigetragen. Darüber hinaus gehören zur rassismuskritischen Theoriebildung ja auch Autor*innen wie Frantz Fanon, Stuart Hall, Paul Gilroy oder Gloria Wekker, deren Arbeiten sich direkt auf die Situation im postkolonialen und migrantischen Europa beziehen, so dass es sowieso unzutreffend ist, hier von einer rein US-amerikanischen Diskussion zu sprechen. Und alle, die tatsächlich einmal Du Bois lesen, werden schnell sehen, dass er die Problematik des Rassismus in den USA stets im inter- und transnationalen Zusammenhänge analysiert. Dasselbe gilt für zahlreiche Vertreterinnen des Schwarzen Feminismus.
Nach Begriffen wie „political correctness“ oder „cancel culture“ stilisieren manche Kommentatoren die Critical Race Theory zu einem neuen Feindbild hoch. Was macht diese Theorie zu einem solchem Ziel? Und gehen einige Ansätze vielleicht tatsächlich zu weit?
Zunächst einmal muss man sich klar machen, was für ein gefährliches Spiel hier gespielt wird. Gerne zeigt man mit dem Finger auf autoritäre Tendenzen in der Türkei oder Ungarn, wo vor allem die Gender Studies angefeindet und kritische Wissenschaftler*innen verfolgt werden. Was wir in den USA und in Frankreich beobachten, wo Regierungen und Parteien gesellschaftskritische Theorien und mißliebiege Akademiker*innen mit den Mitteln des Rechts einzuschüchtern oder aus den Schulen und Universitäten zu verdrängen versuchen, ist davon aber gar nicht so weit entfernt. Es ist politisch und intellektuell alarmierend, wie hier ausgerechnet die Kritik an krassen Formen des Ausschlusses, der Diskriminierung, der Unfreiheit und der Ungleichheit, die sich zum Teil bis zur Zeit der Sklaverei und des Kolonialismus zurückverfolgen lassen, zu einer Bedrohung von Freiheit, Gleichheit und sozialem Zusammenhalt umdefiniert wird. Wir sind Zeugen eines ideologischen Kampfes, der (hierzulande glücklicherweise noch nicht im vollen Umfang, aber die AfD ist da ganz vorne mit dabei) mit allen Mitteln der Politik, des Rechts und der Propaganda ausgetragen wird. Da wird auch vor an Orwell erinnernden Floskeln wie „Rassismuskritik ist Rassismus“ nicht zurückgeschreckt, die natürlich keinerlei inhaltlichen Bezug mehr haben zu den oben genannten Theoriediskussionen. Dass es einen solchen Backlash gibt, sollte uns aber vielleicht nicht erstaunen, denn kritische intellektuelle Strömungen und soziale Bewegungen, die Herrschaftsverhältnisse und weithin akzeptierte Sichtweisen in Frage stellen, haben immer zu Gegenwehr geführt, das gilt auch für Marxismus und Feminismus
Inwiefern?
Es geht hier ja um soziale Machtverhältnisse und die mit ihnen verflochtenen Interessen, Identitäten und idealisierten Selbstbilder, und so ist mit heftigen Abwehrreaktionen zu rechnen. Natürlich gibt in einem so weiten theoretischen Feld wie der CRT auch interne Spannungen, nicht zuletzt den Begriff „race“ selbst betreffend, und Positionen, die weniger überzeugend sind. Zudem finden theoretisch komplexe Konzepte ihren Eingang in die öffentliche Diskussion und die Alltagskultur häufig in simplifizierter und dekontextualisierter Form. Und schließlich folgt aus keiner Theorie eine eindeutige politische Handlungsanweisung, so dass mit auch intern heftigen Diskussionen um Strategien und Taktiken im Kampf gegen den Rassismus zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund kann man einen stark moralisierenden, individualisierenden und psychologisierenden Diskurs, in dem sich alle erstmal positionieren und ihre eigenen Privilegien schamvoll eingestehen müssen, für genauso problematisch halten wie manche antirassistischen Politiken, die die Vorstellung homogener Gruppen reproduzieren. Aber der Punkt ist doch: die besten Ressourcen für die Infragestellung der Moralisierung, Individualisierung und Psychologisierung des Rassismus sowie problematischer Identitätspolitiken bietet noch immer die CRT selbst und die von ihr entwickelten Konzeptionen des institutionellen und strukturellen Rassismus. Vor diesem Hintergrund erscheint die Denunziation von Individuen als rassistische Unterdrücker aufgrund zugeschriebener Gruppenidentitäten oder die Reduktion von Anti-Rassismus auf Anti-Bias-Training nicht besonders zielführend. Andererseits ist gerade angesichts des Backlash gegen Rassismuskritik schwer zu bestreiten, dass Konzepte wie „weiße Fragilität“ oder „weiße Unschuld“ etwas treffen.
Sie selbst haben viel zum Thema Rassismus geforscht. Welche Formen von Kritik, Solidarität und Widerstand können festgefahrene Formen des Rassismus tatsächlich effektiv herausfordern oder sogar verhindern?
Neben der Insistenz auf dem Fortbestehen und der Analyse der Beharrlichkeit rassistischer Strukturen sind drei weitere Einsichten kritischer Theorien des Rassismus von ganz wesentlicher Bedeutung, auch um zu verstehen, warum diese Theorien (anders als der sogenannte Afropessimismus) nicht per se zu Pessimismus und Fatalismus führen: Erstens hat es – von den vielfältigen Formen des Widerstands gegen die Sklaverei bis Black Lives Matter und antirassistischen Bewegungen hierzulande – immer bedeutsame und auch effektive Kritik an und Kämpfe gegen rassistische Herrschaft gegeben, die auf eine strukturelle Veränderung der Gesellschaft abzielen. Davon zeugt auch die lange Tradition antirassistischer Theoriebildung und Wissensproduktion, die häufig außerhalb der ebenfalls von vielfältigen Ausschlüssen gekennzeichneten Universitäten situiert war und ist. Zweitens gibt es den Rassismus nicht im Singular und nicht als statisches Phänomen; vielmeher ist er in steter Veränderung begriffen, und in dieses dynamische Feld intervenieren ja auch die Kämpfe gegen Rassismus, hier sind die Betroffenen auch Akteure. Und schließlich kann und muss man drittens darauf setzen und dafür kämpfen, dass die ideologischen Versuche der Diffamierung von Anti-Rassismus an einer doppelten Realität scheitern: an der ja en detail dokumentierten Realität von historischen und gegenwärtigen Formen des rassistischen Ausschlusses und der Diskriminierung, und an der ebenso unabweisbaren Realität, dass wir in einer pluralen, durch Migration und komplexe Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft leben, die den rassistischen Phantasmen der Homogenität und der Reinheit diametral entgegensteht. Daher gibt es gar keine nachhaltige Alternative, als eine Form des Zusammenlebens anzustreben, die echte Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie für alle realisiert.
Sie sind also zuversichtlich?
Anlass zu vorsichtigem Optimismus liefern hier nicht nur Black Lives Matter, die größte antirassistische Bewegung in der Geschichte der USA, die zunehmend globale Resonanzen hat, sondern auch die Konvergenzen unterschiedlicher Kämpfe gegen sozioökonomische Ausbeutung und Prekarisierung, rassistische Diskriminierung und Ausschluss sowie die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit. Diese Konvergenzen eröffnen ganz neue Möglichkeiten der Solidarität zwischen den einzelnen Bewegungen und über sie hinaus. Vor diesem Hintergrund ist es schockierend, mit welcher Vehemenz antirassistischen Theorien und Bewegungen Relativismus, partikulare Interessenpolitik oder gar ein neuer Totalitarismus vorgeworfen wird. Wer glaubt, die Gefahr drohe in dieser Konstellation vor allem durch „safe spaces“, „cancel culture“ und die vermeintlichen Exzesse der Identitätspolitik, hat nicht verstanden, was hier auf dem Spiel steht. •
Robin Celikates ist Professor für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin und stellvertretender Direktor des Centers for Humanities and Social Change Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kritischen Theorie. Gegenwärtig arbeitet er vorwiegend zu zivilem Ungehorsam, Demokratie, Migration und Solidarität.
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