Afropessimismus: Sklaverei ohne Ende?
Seit dem Tod von George Floyd am 25. Mai in Minneapolis durch einen Polizisten steht die strukturelle Benachteiligung von und Gewalt gegen Schwarze im Fokus der Aufmerksamkeit: Große Proteste formierten sich in den USA und international; Denkmäler von Kolonialisten und als rassistisch wahrgenommenen Persönlichkeiten wurden gestürzt. Dass die Black Lives Matter Bewegung allerdings zu einem tiefgreifenden Wandel führt, bezweifeln Afropessimisten – und berufen sich dabei auf die Sprachphilosophie des Strukturalismus. Dabei birgt diese Theorie doch gerade Grund zur Hoffnung, meint Theresa Schouwink, Redakteurin des Philosophie Magazin.
Eine theoretische Strömung, die diese Möglichkeit radikal verneint, ist der sogenannte „Afropessismismus“. Aktuell ist der prominenteste Vertreter Frank B. Wilderson III, dessen Buch „Afropessimism“ im April dieses Jahres erschien. Afropessimistische Denker sehen die Situation der Schwarzen heute noch immer maßgeblich durch die Folgen des transatlantischen Sklavenhandels bestimmt. Im Grunde, so ihre Position, bedeutet Schwarz-Sein noch immer Sklave-Sein. Für eine Verbesserung dieser Situation durch rechtliche und soziale Reformen bestehe keine Aussicht, da die westliche Zivilisation als solche auf „Anti-Blackness“ beruhe. Anti-Blackness unterscheidet sich, meinen Afro-Pessimisten, grundlegend von der Diskriminierung anderer Identitäten, etwa der von Juden, Farbigen, Frauen und Homosexuellen. Bei letzteren handele es sich um unterdrückte menschliche Subjekte. Schwarze hingegen, so die radikale These, sind in unserer Kultur keine menschlichen Subjekte, die über Rechte und Selbstbestimmung verfügen.
Dahinter steht die sprachtheoretische, auf den französischen Strukturalisten Ferdinand de Saussure zurückgehende Überlegung, dass Begriffe ihren Sinn nicht in sich selbst tragen, sondern nur in der Abgrenzung zu anderen Begriffen. Es gibt so gesehen keine Essenz der Menschlichkeit. Vielmehr bedeutet „Mensch-Sein“ erst etwas durch seinen Gegensatz. Dieser Gegensatz, so die Afropessimisten, ist „Schwarz-Sein“. Schwarze würden deshalb, unabhängig von ihrem Erfolg in der Gesellschaft, die Position des „sozialen Todes“ besetzen. Daraus erkläre sich auch das Fortbestehen häufiger reale Morde an Schwarzen. Weil die westliche Zivilisation und ihr Konzept von Menschlichkeit also inhärent auf dem Ausschluss von Schwarzen beruhen, sei jede Reform ausgeschlossen. Einen Ausweg sehen Afropessimisten einzig in einer radikalen Revolution, in einem „Ende der Welt“, die wir kennen.
Allerdings wäre zu fragen, ob diese afropessimistische Schlussfolgerung – gemäß der ihr zugrunde liegenden Theorie – überhaupt schlüssig ist. Denn wenn die Zeichen ihren Sinn erst durch die Differenz zu anderen Zeichen erlangen, mithin ein Begriff wie Menschlichkeit nicht auf ein wie auch immer geartetes „Wesen“ des Menschen verweist, dann sind die Bedeutungen der Zeichen auch veränderbar. Genau dies war die Einsicht des Poststrukturalisten Jacques Derrida, der den Strukturalismus de Saussures, wenn man so will zu Ende dachte. Woraus folgt: Auch „Schwarz-sein“ ist nicht bis in alle Ewigkeit festgenagelt auf eine und nur eine Bedeutung. Ob diese Einsicht zu einem Afro-Optimismus führt? Es wäre zu hoffen. •
Lesen Sie auch: Der Philosoph Kwame Anthony Appiah sprich im Interview über den Zusammenhang von Antirassismus und Ethnizität und den Beginn einer moralischen Revolution.
Weitere Artikel
Gegen den Strich
Durch die „Black Lives Matter“-Bewegung wird weltweit über den Umgang mit Denkmälern diskutiert. Dabei braucht es vor allem Ambiguitätstoleranz – aber richtig verstanden.

Was ist Strukturalismus?
In unserer Rubrik Auf einen Blick machen wir philosophische Strömungen in einem Schaubild verständlich. Heute: Strukturalismus. Dieser gibt Aufschluss über die Regeln, nach denen die Sprache und andere kulturelle Phänomene funktionieren.

Das Mob-Momentum
In den letzten Wochen lieferten sich Unterstützer der "Black-Lives-Matter"-Bewegung und Anhänger Donald Trumps immer wieder Auseinandersetzungen. Roger Berkowitz, Direktor des Hannah-Arendt- Zentrums am Bard College in New York, erklärt mit Hilfe von Arendts Begriff des "zivilen Ungehorsams" was beide Lager unterscheidet und erläutert, warum dem US-Präsidenten das aktuelle Chaos bei der bevorstehenden Wahl nutzen könnte.

Kwame Anthony Appiah: „Für universelle Kämpfe müssen Menschen nicht ihre Identitäten aufgeben“
Der Mord an George Floyd hat zu weltweiten Protesten geführt – und dabei die drängende Frage aufgeworfen, welche Rolle die ethnische Identität im Kampf gegen Rassismus spielen darf und sollte: Wie rassistische Strukturen entlarven, ohne die Differenz schwarz-weiß abermals festzuschreiben? Ist Identität ein Werkzeug der Unterdrückung und Einengung – oder der Befreiung? Der in New York lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah über den Zusammenhang von Antirassismus und Ethnizität, Joe Bidens Wahl von Kamala Harris als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft – und den Beginn einer moralischen Revolution.

Michel Foucault: Das Ende der großen Erzählungen
Erschienen zur Hochzeit des Strukturalismus traf Die Ordnung der Dinge auf ein breites Echo und rief lebhafte Debatten hervor. Mit diesem die Jahrhunderte durchlaufenden Panorama erneuerte Foucault die Wissenschaftsgeschichte – und prognostizierte das Ende des Menschen als privilegiertem Gegenstand der Erkenntnis.

Das Ende der Hyperrealität?
Die Kriegserfahrung durchbricht die spätmodernen Zeichenspiele. Im Realitätsschock liegt die Chance auf echten Frieden. Hierzulande jedoch droht eine Irrealisierung des Geschehens durch die Medien. Ein Beitrag von Theresa Schouwink, Redakteurin des Philosophie Magazins.

9. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 9. Türchen: Unsere Redakteurin Theresa Schouwink rät zu Die Wildnis, die Seele, das Nichts von Michael Hampe (Hanser, 417 S., 26 €)

21. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 21. Türchen: Unsere Redakteurin Theresa Schouwink rät zu Nature and Selected Essays von Ralph Waldo Emerson (Penguin, 416 S., 13,22 €)
