Schule der Angst
Die langen Schulschließungen waren ein Irrtum mit gravierenden Folgen. Die Fehler müssen aufgearbeitet werden, damit die Kinder ihren Weg in die Mündigkeit finden, argumentiert Politiklehrer Robert Benkens.
Über Generationen haben Politikdidaktiker das hohe Lied auf die kritische politische Bildung gesungen. So steht im Lehrplan für mein Fach Politik-Wirtschaft: „Der entscheidungs- und interventionsfähige Bürger ist eine unerlässliche Zielperspektive schulischer Bildung“. Auch im Deutsch-, Geschichts- und Philosophieunterricht gehört Immanuel Kants Diktum „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ zum Kanon schulischer Erziehung zur Mündigkeit. Aber ausgerechnet in einer der härtesten Bewährungsproben – in der kritischen Aufarbeitung des Pandemiediskurses – blieb die politische Bildung bisher: still. Will man junge Menschen zu mündigen Bürgern „erziehen“, so bedeutet dies auch, ihnen Freiraum zu lassen, die Direktiven der Erwachsenen kritisch zu hinterfragen. Dieser Freiraum wurde ihnen aber durch eine allgegenwärtige Rhetorik der Angst genommen.
So rief das Innenministerium im März 2020 Wissenschaftler zur „maximalen Kollaboration“ auf, um die eigene Lockdown-Politik durch die mediale Verbreitung von Horrorszenarien („Eine Million Tote“) zu legitimieren. In dem zunächst geheim gehaltenen Papier sollte die Schockwirkung etwa folgendermaßen erzielt werden: „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern“. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
Kinder als Virenschleudern, Schulen als Pandemietreiber – dieses Denken prägte unsere Jugend nachhaltig. Selbst Anfang Februar 2022, fast zwei Jahre und mehrere Schullockdowns, schützende Impfungen und eine mildere Omikron-Variante später, als viele ihrer Altersgenossen in anderen Ländern längst im schulischen Regelbetrieb waren, klagte ein Verbund von Schüler-Sprechern der Initiative Wir werden laut die Politik aufgrund offener Schulen an. Neben der nachvollziehbaren Kritik an mangelnden Konzepten, stellte die Initiative aber auch die Präsenzpflicht an sich in Frage und sah sich einer todbringenden „Durchseuchungsagenda“ ausgeliefert. Die monatelangen Schulschließungen wurden hingegen nicht grundsätzlich hinterfragt. Die monatelangen Schulschließungen wurden dagegen achselzuckend hingenommen.
Schließung zu welchem Preis?
Dabei kommt nicht nur der Kinder- und Jugendreport 2022 der DAK zu erschreckenden Ergebnissen: So habe die Häufigkeit von Arztkontakten 2021 gegenüber den Vorjahren weiter abgenommen, es gebe aber trotzdem 54 Prozent mehr neu diagnostizierte Essstörungen bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, 23 Prozent mehr Depressionsdiagnosen (10 bis 14 Jahre), 24 Prozent mehr Angststörungen bei Mädchen und 15 Prozent mehr Adipositas-Fälle unter Jungen. Hinzu kommt: Das Risiko für diese Erkrankungen ist vor allem für Kinder aus benachteiligten Schichten gestiegen.
Wer so grobe Maßnahmen wie das Dichtmachen von Geschäften und Schulen beschließt und damit nicht nur enorme Staats-, sondern auch Bildungs- und Bindungsdefizite in Kauf nimmt, muss zumindest nach zwei Jahren eine glasklare Evidenz dafür vorlegen können, dass hierdurch Infektionen und Todesfälle verhindert wurden. Deutschland hielt seine Schulen 38 Wochen bzw. 183 Tage und damit fast ein ganzes Schuljahr ganz oder teilweise geschlossen, kurz dahinter kommt Österreich. Bei den Nachbarn in der Schweiz waren es nur sechs Wochen. Auch in Frankreich waren die Schulen weitgehend offen, ganz zu schweigen von Schweden. Legt man die Coronakurven nun nebeneinander, erkennt man keinen Effekt langer Schulschließungen. Das ifo-Institut bestätigt diesen Befund mit Blick auf andere Ländervergleiche und ergänzt, „dass Schulöffnungen diversen Erkenntnissen zufolge keinen Treiber der Pandemie darstellten.“ Umso bedenklicher sei es daher, „dass die Belange der Schüler*innen während der Pandemie hintenangestellt wurden.“
Kinderarzt Reinhard Berner, Mitglied des aktuellen Expertenrates der Bundesregierung und Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Dresden wertete internationale Studien in einer Meta-Analyse aus und resümiert: „Wenn wir davon ausgehen, dass wir es in Zukunft mit Varianten zu tun haben, die vergleichbar sind mit denen der vergangenen zweieinhalb Jahre, dann gibt es keine Rechtfertigung mehr für Schulschließungen – vor allem vor dem Hintergrund einer verfügbaren und wirksamen Impfung.“ Auch der Sachverständigenrat zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen kann keine ausreichende Evidenz für die Wirksamkeit von langen Schulschließungen finden.
Keine Entschuldigung
Von einer öffentlichen Entschuldigung verantwortlicher Politiker, tonangebender Regierungsberater und Medien ist leider wenig zu vernehmen – auch wenn das Versprechen, es werde keine Schulschließungen mehr geben, wie ein unausgesprochenes Eingeständnis verstanden werden kann. Mir geht es hier nicht um ein „Blame Game“. Die Schulen in der ersten Phase einer globalen Pandemie sicherheitshalber zu schließen, war richtig. Auch hat die Bundesregierung zwei Milliarden Euro in das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ investiert, es gab Digitalisierungsbooster und viele Kolleg*innen haben sich redlich ins Zeug gelegt.
Ich beobachte auch nicht, dass unsere Schüler jetzt alle psychische Wracks wären – ich unterrichte allerdings auch an einer Schule mit engagierter Elternschaft und kann nur erahnen, wie es um die Defizite in Brennpunktschulen aussieht. Vielmehr geht es mir um die Art der Debattenführung und darum, dass „Kollateralschäden“ durch eine präzisere Coronastrategie hätten vermieden werden können – anstatt sich stur an Kontrollillusionen und Scheinkausalitäten à la „Je härter die Maßnahmen, desto weniger Infektionen“ festzuklammern. Wenn beispielsweise die „Bundesnotbremse“ Ende April 2021 inklusive Schulschließungen ab einer Inzidenz von 165 so erfolgreich war: Wieso sanken die Zahlen zeitgleich in Ländern, die gar keine Notbremse eingeführt hatten? Oder umgekehrt: Wieso fielen die Coronazahlen bei uns rund um den Jahreswechsel 2021/22, obwohl es weder den von vielen geforderten Lockdown samt Schulschließungen wie etwa in den Niederlanden gab? Und weshalb schossen die Kurven in Ländern wie Spanien oder Großbritannien nicht wieder hoch, nachdem sie die Isolationspflicht schon im Frühjahr 2022 aufgehoben hatten, während in Deutschland bis heute auch symptomlos positiv getestete Schulkinder fünf Tage zu Hause bleiben müssen?
Für den Wissenschaftsphilosophen Karl R. Popper war der Irrtum die Grundlage des Fortschritts. Seine Wissenschaftstheorie basiert auf dem „Fallibilismus“ – der Annahme, dass es durchaus eine objektive Wahrheit gibt, der wir uns aber nur über Versuch und Irrtum, Dialog und Kritik sowie Falsifikation überholter Glaubenssätze annähern könnten. Heute geht es jedoch nicht mehr um Erkenntnisfortschritt, sondern um das Verteidigen eines bestimmten Corona-Narrativs. Für die einen ist die Maske ein Maulkorb der linken Umerziehungs- und Coronadiktatur, für die anderen das Symbol einer progressiv-solidarischen Haltung gegen sozialdarwinistische Öffnungsorgien rechtslibertärer Freiheitsfanatiker.
Rationales Denken lernen
Über die gefährliche Verblendung von Coronaignoranten und Impfgegnern wird überall berichtet – zurecht. Aber warum können gebildete Menschen, die sich selbst zum „Team Wissenschaft“ zählen, nicht erkennen, dass der liberale „Schwedische Weg“ mit einer laut Weltgesundheitsorganisation geringeren Übersterblichkeit als Deutschland eben nicht „gescheitert“ ist – sehr wohl aber die autoritäre „Zero-Covid-Strategie“? Und hielt „Team Vorsicht“ Deutschland für die letzte Insel der Wissenschaft und alle Länder um uns herum, die früher öffneten, für Querdenkerstaaten, die unverantwortlich mit der Gesundheit ihrer Bevölkerung spielten?
Offensichtlich befinden wir uns längst in der „Myside-Society“ wie es der US-Amerikaner Keith E. Stanovich in The Bias That Divides US: The Science and Politics of Myside Thinking nahelegt: Menschen bilden sich ihre Meinung demnach nicht nach dem Abwägen aller Argumente, Beispiele und Belege im Popperschen Sinne, sondern es sei vielmehr umgekehrt: Menschen selektieren Infos und Studien von vornherein so, dass diese ein bestehendes Weltbild stützen und blenden alles aus, was dieses ins Wanken bringen könnte. Der US-Psychologe Drew Westen untersuchte die Gehirne von erwachsenen, gebildeten Menschen. Das Ergebnis: Wenn die Probanden auf Informationen stießen, die kognitive Dissonanz auslösten, weil sie ihrem Weltbild widersprachen, waren die Bereiche ihres Gehirns, die für rationales Denken verantwortlich sind, gewissermaßen „ausgeschaltet“.
Gerade auch gebildete und sich für aufgeklärt haltende Menschen begehen Selbstbestätigungsfehler und tappen in Überzeugungsfallen ihres politischen Lagers – nicht nur „Covidioten“. Wie kommen wir da wieder raus? Der renommierte Harvard-Psychologe Steven Pinker macht in seinem Buch Aufklärung jetzt einen Vorschlag, den ich als Lehrer sehr unterstütze: So wie jeder Mensch Kenntnisse in Geschichte, Naturwissenschaften oder Lesen und Schreiben besitzen solle, so solle er auch über das geistige Rüstzeug für rationales Denken verfügen. Dieses Rüstzeug, dieses Selbstbewusstsein können sich junge Menschen aber nicht aneignen, wenn das blinde Befolgen von Regeln als erste Bürgerpflicht gilt. Mündigkeit bleibt nur eine Worthülse, wenn Medien und Schule die Aufarbeitung der Pandemiepoltik aus Angst, der „falschen Seite“ Raum oder gar Recht zugeben, meiden.
Lichtblicke
Die politische Bildung muss die Aufarbeitung aus den Kommentarspalten der a-sozialen Medien in die Mitte eines zivilisierten Unterrichtsgesprächs holen. Schüler könnten bei einer solchen Aufarbeitung sehen, was Mündigkeit und kritisches Denken im echten Leben abverlangen, dass sie zwar schön klingende Worte in Schulbüchern sind, im Zweifel aber Mut erfordern und Überwindung kosten. Generation „Corona“ könnte dann auch erkennen, dass sie wegen klaffender Bildungslücken und einer Zunahme schulpsychologischer Beutreuungsfälle nicht sich selbst, sondern das System der Schulschließungen in Frage stellen darf.
Der Ethikrat, der viele Entscheidungen in der Pandemie begleitete, hat mit seiner Veranstaltung Triff den Ethikrat! Unser Leben in der Pandemie für Schülerinnen und Schüler jüngst den Anfang einer solchen Aufarbeitung gemacht. Ethikratsmitglied Stephan Rixen äußert sich in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ gegenüber der Bundesnotbremse, geschlossenen Kinderspielplätzen und den langen Schulschließungen (selbst-)kritisch, wenn er sich fragt, ob „wir nicht früher zu mehr Differenzierung hätten kommen müssen, um junge Menschen vor unnötigen Belastungen zu schützen. Diese Bereitschaft zur Differenzierung hat sich zu spät ausgebildet.“ Ein Kollege Rixens merkte selbstkritisch an: „Wenn wir gewusst hätten, wie lange es dauert, hätten wir die Perspektive der Jugend stärker gewichtet.“ Eine solche kritisch-rationale Grundhaltung ist „unverzichtbar, wenn wir in unserem Privatleben und in der Politik dumme Fehler vermeiden wollen.“ – wie Pinker es ausdrückt. Bitte korrigieren Sie mich, falls ich falsch liege: Aber ausgerechnet die Jüngsten, die am wenigsten von Covid19 bedroht waren, am stärksten und ohne nennenswerten Effekt auf die Coronazahlen in ihrer Entfaltung einzuschränken, war wohl ein solcher Fehler.
Robert Benkens ist Lehrer für Deutsch und Politik-Wirtschaft an der Liebfrauenschule Oldenburg.
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Kommentare
Sehr geehrter Herr Benkens,
Sie können gar nicht wissen, wie sehr ich Ihren Artikel unterstütze! Ich bin die Mutter dreier Kinder, von denen eines im ersten Covid-Jahr 2020 Abitur gemacht hat, das zweite dann in 2022 und das dritte jetzt in der 9. Klasse ist. Ich habe unzählige Briefe an den bayerischen Kultusminister sowie Zeitungen und dem Elternbeirat geschrieben. Jenseits der psychischen Belastung und eventueller Bildungsdefizite empörte mich das Stigma der Kinder als reine Virenschleuder, die deutliche Rhetorik der Angst und tatsächlich die fehlende Differenzierung. Obwohl wir alle früh geimpft waren, rutschte man bei Kritik am politischen Umgang - vor allem in Bayern! - doch recht schnell in die "Covioten" und Querdenker Ecke! Die Resilienz unserer Kinder bestand ins Abtauchen in digitale Welten. Wie gut das für die Entwicklung mündiger Bürger und einer tragfähigen Demokratie ist, weiß ich nicht.