Simone Beauvoir und der Feminismus
Heute vor 37 Jahren starb Simone de Beauvoir. Svenja Flaßpöhler erläutert in ihrem Essay einen zentralen Gedanken der Philosophin: Die wahre Freiheit der Frau liegt nicht darin, die Andersheit zu negieren, sondern sie in Kraft zu verwandeln.
Ein ganzes Frauen- und Männerleben. Inzwischen hat sich, politisch wie gesellschaftlich, einiges getan. Um es mit Beauvoir zu sagen: Die „Situation“ der Frau – wie auch die des Mannes – hat sich gewandelt. So konnte die Philosophin und Schriftstellerin im Erscheinungsjahr 1949 noch völlig zu Recht hervorheben, dass eine Frau wählen müsse zwischen ihren beruflichen Ambitionen und dem Wunsch, Kinder zu bekommen. „Eine der weiblichen Funktionen kann beim heutigen Stand der Dinge fast unmöglich in aller Freiheit übernommen werden: die Mutterschaft“, schreibt Beauvoir. „Oft muss sie (die Frau) für ein Kind sorgen, das sie gar nicht haben wollte und das ihre berufliche Laufbahn ruiniert. (…) Nur selten kann eine Frau Mutter werden, ohne die Fesseln der Ehe zu akzeptieren oder ihr persönliches Ansehen zu verlieren. (…) Man muss hinzufügen, dass in Ermangelung angemessen organisierter Kindergärten oder -horte ein einziges Kind genügt, um die Aktivität einer Frau vollkommen lahmzulegen.“
Beauvoir selbst hat sich für die Aktivität entschieden. Sie hatte weder Kinder noch war sie Ehefrau. Stattdessen verfasste sie unzählige Romane und Essays; für „Die Mandarins von Paris“ erhielt sie 1954 die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, den Prix Goncourt. Doch erst durch „Das andere Geschlecht“ etablierte sie sich international als Intellektuelle und Philosophin. Zudem trat Beauvoir endlich aus dem Schatten Jean-Paul Sartres, mit dem sie ein tiefer, erotisch-geistiger Pakt verband.
Das andere Geschlecht
Heute, 37 Jahre nach Beauvoirs Tod, gibt es Kitas und Ganztagsschulen. Es gibt immer mehr Männer, die sich einbringen in die Sphäre der „Immanenz“, wie die Denkerin das „Gefängnis“ der Frau um Heim und Herd nannte . Und entsprechend gibt es auch immer mehr Frauen, die sich in der ehemals männlichen Sphäre der „Transzendenz“ behaupten, die ökonomisch unabhängig und nicht selten gleichzeitig Mütter sind. Ist also alles gut? Hat sich der Feminismus, hat sich Beauvoir erledigt? Können wir „Das andere Geschlecht“ beiseitelegen?
Mitnichten. Wer Beauvoirs Hauptwerk in diesen Tagen liest, wird entdecken, dass es einen Problemkomplex benennt, den wir auch in Zeiten rechtlicher Gleichstellung noch nicht überwunden haben. Der Kerngedanke von Beauvoir ist dieser: Der Mann wird seit jeher als „das Eine“ gedacht. Als „Norm“. Als „Allgemeines“. Die Frau hingegen ist „das Andere“. Die „Abweichung“. Das „Besondere“. Der Mann ist Mensch (im Französischen bezeichnet „homme“ tatsächlich beides, Mann und Mensch), die Frau aber ist zuerst einmal und vor allem: Frau. Der Mann ist Kultur, die Frau Natur. Genauer: Sie ist ihr Geschlecht. Wenn im 21. Jahrhundert die ehemalige Bundeskanzlerin als „Mutti“ bezeichnet wurde; wenn Millionen Frauen aus unterschiedlichsten Schichten und Berufssparten #metoo in ihr Smartphone tippen; wenn Frauen mehrheitlich schlecht bezahlte Arbeit verrichten, in Führungspositionen grandios unterrepräsentiert sind und selbst für gleiche Arbeit geringeren Lohn erhalten als Männer, dann sind das Symptome eben dieser jahrhundertealten Abwertung.
Das Märchen vom Mangel
In ihrer Einleitung fasst Beauvoir die Logik des Anderen wie folgt zusammen: „Die Frau hat Ovarien und einen Uterus. Das sind Sonderbedingungen, die sie zur Subjektivität verurteilen. Man sagt gern, sie denke mit ihren Drüsen. Der Mann sieht großzügig darüber hinweg, dass zu seiner Anatomie auch Hormone und Testikel gehören. Er begreift seinen Körper als direkte, normale Verbindung zur Welt, die er in ihrer Objektivität zu erfassen glaubt, während er den Körper der Frau durch alles, was diesem eigentümlich ist, belastet sieht und ihn als Behinderung (…) betrachtet.“ Frauen können sich nicht ins Reich des Geistes aufschwingen, weil sie gefangen sind in ihrem Körper, der sie bedingt, beschäftigt, einschränkt. Kurzum: Weiblichkeit ist gleichbedeutend mit Mangel. Eine Sicht, die sich Beauvoir zufolge auch durch die Philosophiegeschichte wie ein roter Faden zieht: So zitiert sie Aristoteles und Thomas von Aquin, die Frauen als verfehlte Männer begriffen. Und auch Sigmund Freud, dem Beauvoir ein eigenes Kapitel widmet, hatte dem Mädchen bekanntermaßen einen „Penisneid“ und dem Jungen umgekehrt eine durch die Frau ausgelöste „Kastrationsangst“ attestiert.
Anders gesagt: Die Frau mit ihrem angeblichen Nichts zwischen den Beinen ist der blanke Horror. Allerdings reflektierte Freud sehr wohl – und genau hier setzt Beauvoirs Interesse an – die Komplexität der weiblichen Geschlechtsidentität, die immer auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Werten und Normen betrachtet werden müsse. Entsprechend merkt Beauvoir an, dass der Penisneid eben nicht schlicht durch das ersehnte Organ selbst begründet ist, sondern durch „die Situation insgesamt“: „das kleine Mädchen neidet den Phallus nur als Symbol für die den Jungen gewährten Privilegien“, schreibt sie. Es ist diese Spannung zwischen dem „Sexus“ und der „Sitte“, dem biologischen und sozialen Geschlecht, die Beauvoirs Werk trägt und durchzieht. Wie genau also gestaltet sich das Verhältnis?
Führen statt führen lassen
Auf der einen Seite, schreibt die Philosophin, sei die geschlechtsspezifische Anatomie nicht zu leugnen. Frauen können schwanger werden, Männer nicht. Dass die Frau etwa ein ambivalenteres Verhältnis zu Affäre und Seitensprung habe, sei durchaus auch auf das Risiko eines ungewollten Kindes zurückzuführen. Auf der anderen Seite aber haben diese Unterschiede keineswegs die Macht, die Frau in ihrem Sein, ihrem Handeln, ihrem Denken zu determinieren. Dies schon ganz einfach deshalb, weil die Gesellschaft mit ihren Errungenschaften biologisch bedingte Chancenungleichheit weitgehend kompensieren kann; etwa, indem sie körperlicher Gewalt einen Riegel vorschiebt, Medikamente wie die Pille erfindet und einen gesetzlichen Mutterschutz einführt. Darüber hinaus – und dies ist entscheidend – ist der Kern der weiblichen Identität eben gerade nicht die Biologie. Um den wohl berühmtesten Satz aus „Das andere Geschlecht“ zu zitieren: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Die Frau ist kein Naturerzeugnis, sondern ein Produkt. Das Resultat von Erziehung, Sexualmoral und eben jener Setzung, die sich tief in beide Geschlechter eingeschrieben hat: Die Setzung der Frau als das Andere.
In diesem Wissen um das eigene Gewordensein wohnt für die Existenzialistin Beauvoir die Möglichkeit der Freiheit. Wenn die Frau allererst wird, was sie ist, dann kann sie sich auch ändern. Wie? Indem sie ihr Leben im wahrsten Sinn des Wortes führt, anstatt sich führen zu lassen. Die Frau besitzt die Macht, sich zu transzendieren. Sie hat die Potenz, sich über die eigene Genese zu erheben und sich zu ihrer Biologie zu verhalten. Sich selbst Ziele zu setzen, eigene Werte zu leben. Kurzum: die zu werden, die sie sein will, und dafür zu kämpfen, als „Ebenbürtige“ anerkannt zu sein.
Die wahre Freiheit der Frau
Das Besondere am Feminismus Beauvoirs ist, dass sie sich keineswegs damit begnügt, die männliche Dominanz anzuklagen. Vielmehr nimmt sie auch die Frauen selbst in die Pflicht. Frauen haben, so ihr Gedanke, die jahrhundertealte Abwertung verinnerlicht – und reproduzieren sie noch heute. Warum verschwinden Frauen, die bestens ausgebildet sind, nach wie vor oft nach der Geburt des ersten Kindes vom Arbeitsmarkt? Warum verhandeln Frauen ihre Gehälter viel defensiver als Männer? Weil die kulturelle Zuschreibung als das andere, minderwertige Geschlecht sich tief auch in die weibliche Psyche eingeschrieben hat. Und Beauvoir nennt noch einen weiteren Grund für das oft fehlende individuelle Emanzipationsbestreben: Die Frau ist immer auch Komplizin des Mannes. Sie ist Komplizin der eigenen Unterdrückung. Frauen seien, „anders als die Schwarzen in Afrika oder die Juden“, nicht systematisch ausgegrenzt. „Sie leben verstreut unter den Männern, sind durch Wohnung, Arbeit, ökonomische Interessen und die soziale Stellung enger mit bestimmten Männern – sei es der Vater oder der Ehemann – verbunden als mit anderen Frauen.“ Beauvoirs Forderung ist glasklar: Wenn eine Frau ihre Freiheit wirklich ergreifen und leben will, muss sie auf Privilegien verzichten. Autonomie gibt es nicht umsonst. Autonom handeln heißt: Kritik auf sich zu ziehen, manchmal gar Hass. Und Hindernisse offensiv in Angriff zu nehmen.
Beauvoir wusste, wovon sie redete. Sie selbst wurde oft angefeindet. Auch von Feministinnen, die ihr zum Beispiel vorwarfen, dass sie als Kinderlose über das Muttersein schreibt und in ihrer privilegierten Position als weiße bürgerliche Frau die Freiheit des Einzelnen überschätze. Vor allem aber die nachfolgende Generation setzte sich äußerst kritisch mit ihr auseinander – am scharfsinnigsten die amerikanische Philosophin Judith Butler, die wichtigste Repräsentantin des sogenannten Postfeminismus. In ihrem wirkmächtigen Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1990) beschäftigt sich Butler eingehend mit Beauvoir. Butlers Kritik lautet: Indem die französische Denkerin zwar das soziale Geschlecht als konstruiert ansieht, nicht aber das biologische Geschlecht, verbleibe sie ungewollt im patriarchalen Diskurs. Allein dass wir die Menschheit in zwei Geschlechter aufteilen, verweise darauf, dass nichts am Körper frei von Macht sei – und so plädiert die Poststrukturalistin für eine Auflösung des Subjekts „Frau“, auf das sich der Feminismus Beauvoirs noch zentral bezog. Und doch: Dass die Gegenwart eine Bewegung wie #metoo hervorbringt, zeigt mehr als deutlich, dass Frauen sich offenbar selbst immer noch als Frauen begreifen. Einen Feminismus ohne das Geschlecht als Bezugspunkt gibt es nicht. Um es mit Beauvoir zu sagen: Die wahre Freiheit der Frau liegt nicht darin, die Andersheit zu negieren. Sondern sie in Kraft zu verwandeln. •
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