Stoa für Manager
Das Geschäftsmodell der Stoa-Ratgeber ist so simpel wie genial. Lebenstipps werden auf die griechisch-römische Antike zurückgeführt, und sogleich zeigt sich: Mit stoischer Philosophie kann man sich selbst therapieren. Vor allem aber kann man damit sehr viel Geld verdienen.
Ryan Holiday: Senecas Life-Hacks
Der wohl beliebteste Stoa-Autor im Silicon Valley war noch vor ein paar Jahren Marketing-Chef der Modemarke American Apparel. Seitdem hat er zehn Bücher veröffentlicht und mehr als zwei Millionen Exemplare verkauft, darunter Der tägliche Stoiker mit 366 Meditationen – eine für jeden Tag im Jahr: Zum Beispiel Hero or Nero? (11. Februar) mit der Quintessenz, dass mächtige Menschen nicht zwangsläufig schlecht sind, sondern dass es – Achtung – auf die inneren Werte ankommt! Weitere Highlights: Eines Tages wird alles Sinn machen (13. März), Wohlstand und Freiheit kosten nichts (25. März), Heute ist der Tag (22. Mai) und natürlich für alle auf dem Weg nach oben: Wie man mächtig wird (7. November). Dass Holiday nicht nur Bücher schreiben kann, sondern auch selbst eine Leseratte ist, beweist er mit Fotos auf seiner Website, auf denen er in T-Shirt und Jeans vor seinem Bücherregal posiert. Auf dem ausgestreckten Arm in Szene gesetzt das Tattoo: „The Obstacle is the Way“ („Das Hindernis ist der Weg“) – der Titel seines ersten stoischen Ratgebers. Ein ehemaliger Marketingchef weiß sich eben zu präsentieren. In den Vereinigten Staaten kommt das an. Seine Bücher werden nicht nur im Silicon Valley, sondern auch von Football- oder TV-Stars gelesen. Das Erfolgsrezept dahinter ist simpel: Gängige Life-Hacks und Kalenderspruch-Weisheiten werden mit Seneca-Zitaten unterlegt. Vor allem in Videos auf seinem YouTube-Kanal The Daily Stoic wird diese Masche gnadenlos angewandt. Unter Titeln wie Have Your Best Week Ever With These 8 Lessons of Stoicism erklärt Holiday die Kunst des Lebens: Nicht zu oft aufs Handy gucken, spazieren gehen und am besten mit Eseln auf einer Ranch in Texas leben – wie er selbst. Als Krönung kann man sich eine einstündige Videounterhaltung mit Matthew McConaughey ansehen über das, was wirklich zählt im Leben. What’s not to love?
Donald Robertson Selbsttherapie mit Marc Aurel
Während seiner Zeit als Psychotherapeut in London entdeckte Donald Robertson die Verbindung von stoischer Philosophie und kognitiver Verhaltenstherapie als Marktlücke. Er zog nach Kanada, um sich ganz dem Schreiben zu widmen – mit Erfolg: Sechs Bücher hat er bisher veröffentlicht, sie enthalten Ratschläge zur Selbsttherapie, eingebettet in die Geschichte des Kaisers Marc Aurel oder andere antike Quellen. Die Wirksamkeit seiner Tipps zum Stressmanagement oder Umgang mit Schmerz untermauert er mit Erkenntnissen aus der Psychologie. Sein aktueller Erfolgsschlager: How to think like a Roman Emperor (Denke wie ein römischer Herrscher). Neben Büchern bietet Robertson auch Onlinekurse an, in denen er mit angenehm ruhiger Stimme und schottischem Akzent in selbst gedrehten Videos stoische Grundsätze erklärt. Einzelne Clips sind frei verfügbar, komplette Kurse können Interessentinnen für 236 US-Dollar buchen, zum Beispiel Marcus Aurelius: Life and Stoicism oder How to live like Socrates. Bildschirmhintergründe mit einer Büste von Marc Aurel und einprägsamen Zitaten gibt es gratis. Ebenso das Stoic Therapy Toolkit, einen Merkzettel, um die wichtigsten stoischen Praktiken jederzeit griffbereit dabeizuhaben. Darauf stehen Anleitungen für tägliche Routinen und Meditationen: „Stelle dir die ganze Welt von oben vor, so wie sie die Götter vom Olymp aus betrachten.“ Oder: „Rufe dir jeden Morgen ins Gedächtnis, dass dieser Tag dein letzter sein könnte. Versuche, im Moment zu leben und ihn als Geschenk zu betrachten, als wärst du ein Gast bei einem Fest, das nur von kurzer Dauer ist.“ Carpe diem.
William B. Irvine Gutes Leben für Anfänger
Im Ratgebergeschäft ist der US-amerikanische Philosoph William B. Irvine ein alter Hase. Schon vor 20 Jahren, also bevor es cool war, wurde er zum praktizierenden Stoiker. 2008 erschien sein immer noch beliebtes Handbuch Eine Anleitung zum guten Leben, in dem er die Stoa – anders als viele Akademikerinnen vor ihm – zur Lebensphilosophie erklärt. Er lehrt, wie man negative Emotionen loswird, was ein tugendhaftes Dasein auszeichnet und wie man am besten auf die Belastungen des Alltags reagiert. Es geht ihm dabei nicht so sehr um Erfolg, sondern – das will man ihm gerne glauben – um das einfache gute Leben. Irvine behandelt realitätsnahe Beispiele wie den Verlust von geliebten Menschen, den Umgang mit Beleidigungen, den Wunsch nach Luxus oder den Umzug in ein Altenheim. Doch spätestens wenn man sich durch seine anderen Bücher bei Amazon klickt, wird man auch bei ihm den Beigeschmack von kapitalistischer Selbstoptimierung nicht los. Als alternative Kaufempfehlung taucht da ein Low-Carb-Kochbuch auf neben Online-Dating für Frauen und Yin-Yoga für Anfänger. Vielleicht kann Irvine da nichts für. Vielleicht liegt es aber doch daran, dass auch er inzwischen auf den Zug des Geldes aufgesprungen ist: Sein neuestes Buch The Stoic Challenge, das 2019 erschien, beginnt mit einer Episode darüber, wie man als alter weißer Mann ruhig bleibt, wenn der gebuchte Flug ausfällt. Ob dafür nun wirklich die Hilfe der antiken Stoiker gefragt ist, kann jeder für sich entscheiden. •
Weitere Artikel
Anna Schriefl: „Das Silicon Valley vermarktet die Stoa wie Yoga“
Stoische Ratgeber sind beliebt, besonders bei Selbstoptimierern in der Tech-Branche und der Finanzwelt. Was macht gerade Marc Aurel so attraktiv für Manager? Und kann man überhaupt noch von stoischer Philosophie sprechen, wenn sie von ihrem kosmologischen Unterbau gelöst wird?

Frank Bernstein: „Ich sehe die Gefahr, dass Verdrängung wieder zum Normalfall wird“
In der griechischen und römischen Antike wurden Konflikte nicht aufgearbeitet, sondern durch kollektives Vergessen verdrängt. Und obwohl wir uns heute fortschrittlicher wähnen, sind wir von einer produktiven Erinnerungskultur noch weit entfernt, meint der Historiker Frank Bernstein.

Sokrates gegen die Sophisten
Bei den Sophisten und den Philosophen stehen sich zwei Auffassungen der Vernunft unversöhnlich gegenüber: Für die einen ist sie eine Argumentationstechnik, mit der man Geld verdienen kann – für Sokrates und seine Anhänger hingegen ein gemeinschaftliches Unterfangen der Erkenntnissuche. Eine Fehde, die sich durch die Geschichte zieht.

Zeit lassen
Jeder freie Moment, jede Sekunde des Wartens will sogleich ausgefüllt werden. Damit versagen wir uns wertvolle Momente, mit denen sich vielleicht die Welt verändern lässt. Über drei Formen des Wartens.

Dennis Pausch: „Die Meinungsfreiheit der Römischen Republik ging stets mit Schmähfreiheit einher“
Von der Antike herrscht bis heute oft ein verklärtes Bild. Der Philologe Dennis Pausch zeigt in seinem neuen Buch jedoch, wie robust zu Ciceros Zeiten diskutiert und beleidigt wurde. Im Interview erklärt er, warum Beschimpfungen in Athen und Rom so allgegenwärtig waren – und welche bemerkenswerten Parallelen es dabei zur Gegenwart gibt.

Machiavelli und der Krieg
Ist der Krieg das Ende oder vielmehr der Anfang aller Dinge? Und wirklich in jedem Fall ein vermeidbares Übel? Diesen Fragen widmete sich Niccolò Machiavelli in seinem Werk Die Kunst des Krieges. Zwar mögen Machiavellis Antworten nicht immer unsere moralische Zustimmung verdienen. Sehr wohl aber unser politisches Interesse.

Maskulinistischer Vulgär-Stoizismus
Die antike Philosophie der Stoa erfreut sich bei rechten Influencern und neoliberalen Selbstoptimierern zusehends größerer Beliebtheit. Dabei geht es aber mehr um die pseudointellektuelle Weihe einer konsumfertigen Ideologie als um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit philosophischen Gedankengebäuden.

Ferien vom Realitätsprinzip: „Die Durrells auf Korfu“
Die Serie Die Durrells auf Korfu ist derzeit in der Arte-Mediathek zu sehen. Mit sprühendem Witz erzählt sie vom Leben der exzentrischen Familie auf der griechischen Insel. Dabei scheint eine undogmatische Form des Utopischen auf.
