Theatrale Reue
Für den Völkermord in Namibia durch deutsche Kolonialtruppen bat Außenminister Heiko Maas nun mehr als ein Jahrhundert später offiziell um Vergebung. Eine hochproblematische Geste, die das Wesen der Vergebung sträflich verfehlt, meint Nora Bossong.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die kaiserliche Armee unter General von Trotha in Namibia, damals Teil der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Nama und Ovaherero geführt. Die Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin des Kaiserreichs hatte sich bislang geweigert, das Wort Völkermord für das damalige Verbrechen auszusprechen. Vor allem die Sorge, dadurch in die Pflicht von Reparationszahlungen zu kommen, dürfte offizielle Verlautbarungen bislang unterbunden haben. Schon lange hatte es deshalb Kritik nicht zuletzt von Nachkommen der Opfer gegeben. Der Druck auf europäische Staaten, sich ihrer kolonialen Vergangenheit zu stellen, wuchs auch politisch und es war absehbar, dass auch Deutschland würde nachziehen müssen, um wie Frankreich und Belgien scheinbar geläutert Verantwortung einzugestehen und Verfehlungen zu bedauern. Der Mai nun war der Monat postkolonialer Reue. Einen Tag nachdem Emmanuel Macron in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, eine Mitverantwortung Frankreichs am ruandischen Völkermord vor 27 Jahren eingestanden hatte, trat auch der deutsche Außenminister Heiko Maas ans Mikrofon und bat um Vergebung für ein Verbrechen, das mehr als einhundert Jahre zurückliegt.
Aber wirkt eine offizielle Geste im Angesicht eines solchen Leids nicht zwangsläufig unzureichend? Hätte man also auf die Bitte um Vergebung in Anbetracht eines solchen Verbrechens besser ganz verzichtet? Der jüdische Philosoph Jacques Derrida hat sich eingehend mit der Frage nach Vergebung beschäftigt. Dabei bezog er sich besonders auf die Schoah, aber später auch auf andere extreme Leiderfahrungen wie etwa die Apartheid in Südafrika. Derrida sah den Sinn der Vergebung gerade da gegeben, „wo sie aufgerufen ist, das Un-Mögliche zu tun und das Nicht-Vergebbare zu vergeben“. Und doch stand er einer Vergebung auf politischem Feld äußerst kritisch gegenüber.
Ein mechanisches Ritual
„Das Wuchern solcher Szenen der Reue und der Bitte um ‚Vergebung‘ verweist zweifellos auf eine universelle Dringlichkeit des Gedächtnisses: man muss sich der Vergangenheit zuwenden“, so beschreibt Derrida die prekäre Ambivalenz solcher Gesten. Gleichzeitig aber trage „das große Szenarium der Reue (…) gerade in seiner Theatralität (…) frenetische Zwanghaftigkeit“ in sich. Für Derrida ist die politische Bitte um Vergebung ein „mechanisches Ritual“, das aus Berechnung erfolgt. Wahres Vergeben aber geschieht laut Derrida radikal nichtinstrumentell, ganz und gar bedingungslos und daher „auf unendlich exzeptionelle Weise“.
Was also hätte der Außenminister anders machen können? Neben der erheblichen Frage, ob statt der Zahlung an die namibische Regierung nicht Reparationszahlungen an die Nachkommen angemessen gewesen wären, geht es auch um die innere Haltung. Es ist vielleicht die schwerste Aufgabe eines Staatsmannes, das eigene Unvermögen nicht nur zu spüren, sondern es in einem Bild vor der Öffentlichkeit auszudrücken. Der Kniefall von Warschau ist uns auch deshalb nach 50 Jahren noch so präsent, weil er einer der seltenen Momente war, in dem dies gelungen ist. •
Nora Bossong ist studierte Philosophin und Schriftstellerin. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, in gesellschaftlichen Debatten ist sie eine starke Stimme. Für die Kolumne „Blickwechsel“ beleuchtet sie streitbare Gegenwartsphänomene. Ihr neues Buch „Auch morgen. Politische Texte“ erschien im Juni bei Suhrkamp
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