Transplantierte Erinnerungen: Traum oder Alptraum?
US-Forschern ist es gelungen, einer Schnecke die Erinnerungen einer anderen einzupflanzen. Was, wenn dies einst auch bei Menschen gelänge?
Lassen sich Erinnerungen von einem Lebewesen auf ein anderes übertragen? Offensichtlich! Denn genau das ist Forschern an der University of California jüngst gelungen. Die Biologen brachten einem Meeresschneckenexemplar der Art „Aplysia californica“ bei, deren übliche Reaktion auf eine Gefahrensituation, ein Zucken, besonders lange auszuführen, nämlich ganze 50 Sekunden. Anschließend entnahmen sie aus den Nervenzellen der trainierten Schnecke einen speziellen Botenstoff und injizierten diesen in ein anderes Tier, das fortan auf denselben Reiz mit dem Verhalten der konditionierten Schnecke reagierte.
Auch wenn bei diesem Experiment kein komplettes Gedächtnis von einem zum anderen Lebewesen übertragen wurde, sondern „nur“ ein angelerntes Verhaltensmuster, ist dies doch aus mindestens zweierlei Gründen beeindruckend. Erstens ist Forschern derartiges zuvor noch nie gelungen. Und zweitens ähneln die Nervenzellen der „Aplysia californica“ jenen von uns Menschen. Womit diese wissenschaftliche Sensation durchaus an die von Philip K. Dick stammende Kurzgeschichte Erinnerungen en gros bzw. deren Hollywood-Adaption aus dem Jahr 1990 unter dem Titel Die totale Erinnerung – Total Recall erinnert.
Identität als Gedächtnis
Geht es in diesem Film doch um das Chaos, das Erinnerungen erzeugen können, die nicht durch natürliche Erfahrungen in den Kopf eines Menschen gelangt sind, sondern künstlich in diesen implantiert wurden. Ein anderes Beispiel einer popkultureller Verarbeitung dieses Themenkomplexes wäre Michel Gondrys Film Vergiss mein nicht! von 2004, in dem ein von Jim Carrey gespielter Mann sein Gedächtnis manipulieren lässt, um nicht länger an eine schmerzliche Trennung denken zu müssen. Diese fiktiven Geschichten zeigen, was alles schief gehen könnte, würde die nun an Meeresschnecken erfolgreich durchgeführte Erinnerungsübertragung einst zu einer vollwertigen Gedächtnisübertragung ausgebaut und künftig auch an Menschen durchgeführt. Mit dem Philosophen John Locke lässt sich sogar zeigen, dass derartige Verfahren nicht nur risikobehaftet wären, sondern geradezu katastrophale Folgen haben müssen.
In seinem 1695 erschienenen Essay Versuch über den menschlichen Verstand erläutert der Philosoph, dass unsere personale Identität deckungsgleich mit unserem Gedächtnis sei. Ganz im Sinne der erkenntnistheoretischen Auffassung des Empirismus geht er davon aus, dass all unser Wissen aus der Erfahrung stammt. Anders als beispielsweise René Descartes, der die personale Identität an eine immaterielle Seelensubstanz knüpfte, gründet Locke die personale Identität somit auf die Kontinuität der Erinnerung.
Erinnerung wird zum Selbst
So liegt die Identität einer Person für Locke einzig in ihrem Bewusstsein begründet. Das Ich sei durch diesen ununterbrochenen Faden von Erinnerungen stets eine Einheit, obwohl es sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten befinden kann. Was ein Ich also im Wesentlichen ausmacht, ist die Fähigkeit, sich Bewusstseinsinhalte wie Erinnerungen anzueignen und sie auf sich selbst zu beziehen. Dabei hat der Philosoph nicht nur die Gegenwart im Sinn, sondern auch alle vergangenen Erfahrungen, wenn er schreibt: „Da das Selbstbewusstsein das Denken immer begleitet und macht, dass Jeder das ist, was man ,Sein Selbst‘ nennt, und wodurch man sich von andern denkenden Dingen unterscheidet, so besteht die Dieselbigkeit der Person (…) nur hierin, und soweit dieses Selbstbewusstsein sich rückwärts auf vergangene Handlungen oder Gedanken ausdehnen kann, so weit reicht die Dieselbigkeit der Person; sie ist dieselbe jetzt, wie damals; dasselbe Selbst, welches jetzt sich dessen bewusst ist, hat die Handlung verrichtet.“ Oder kurz gesagt: Für Locke fußt unsere Identität auf dem Gedächtnis.
Umso größer scheinen die Gefahren für den Menschen, wenn wir uns vorstellen, dass es auch uns bald ergehen könnte wie der Meeresschnecke. Die Implantation fremder Erinnerungen und Erfahrungen in den eigenen Geist erscheint nämlich deshalb so schrecklich, weil wir, wie Locke zeigt, nicht in der Lage sind, uns an eine Handlung zu erinnern, ohne sie sofort uns selbst zuzuschreiben. Aufgrund der reflexiven Struktur des Bewusstseins bedeutet die Erinnerung an etwas unweigerlich, dass wir uns diese zu eigen machen, sie also zu unserer Erinnerung wird.
Manipuliertes Ich
Lockes Argumentation wirkt hier im ersten Moment verwirrend, leuchtet dann jedoch ein, wenn er schreibt: „Hätte ich das Bewusstsein, dass ich den Regenbogen bei der Flut Noahs so gesehen, wie dass ich letzten Winter die Überschwemmung der Themse gesehen, oder wie dass ich jetzt dies schreibe, so könnte ich nicht zweifeln, dass ich, der ich jetzt schreibe, und der im vergangenen Winter die Überschwemmung der Themse und der die große Sintflut sah, genau dieselbe Person sind, gleichviel in welcher Substanz sie sich befinde.”
In welche Schwierigkeiten uns Menschen implantierte Erinnerungen bringen würden, wird vor dem Hintergrund von John Lockes Gedanken unmittelbar deutlich: Weil unsere Identität deckungsgleich mit unseren Erinnerungen ist und wir keine Kriterien besitzen, um echte von manipulierten Erinnerungen zu unterscheiden, wäre ein manipuliertes Gedächtnis gleichbedeutend mit der Manipulation dessen, wer und was wir sind. Zweifellos ein guter Grund, um bei Projekten der Erinnerungsübertragung und -implantation Vorsicht walten zu lassen. Auch wenn es sich bei dieser Gefahr um keine unmittelbare handelt, lohnt die Diskussion bereits jetzt, damit wir uns nicht irgendwann an eine Zeit zurückerinnern müssen, in der wir noch etwas hätten tun können.•