„Tyrannei der Ungeimpften“? Zugespitzt, aber ethisch richtig!
Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, bemerkte jüngst, Deutschland erlebe eine „Tyrannei der Ungeimpften“. Der ehemalige Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock erläutert in seinem Essay, warum diese Formulierung zwar scharf, aber in der Sache dennoch zutreffend ist.
Wir litten unter einer „Tyrannei der Ungeimpften“, empörte sich der Ärztevertreter Frank Ulrich Montgomery kürzlich in einer Talkshow, der Publizist Henrik Wieduwilt beklagte wiederum, dass „wir“ (wer immer das genau ist) „Geiseln der Corona-Schwurbler“ seien – und mein Disclaimer gleich zu Beginn: Auch ich habe jüngst in einem Fernsehinterview betont, dass Grenzen der finanziellen Solidarität mit Ungeimpften nicht unendlich weit entfernt seien. Kurzum: In der von Wieduwilt noch als „matt“ charakterisierten Restbevölkerung brodelt es. Indiz sind zunehmende Formulierungen, die Impfverweigerung in die Nähe von Kapitalverbrechen rücken. Dass die Konnotation „Verbrecher müssen bestraft werden“ bei denen, die sich angesprochen fühlen sollen, aufkommen, überrascht wenig. „Druck erzeugt Gegendruck“ lautet dann eine übliche Antwort, entweder als Drohung oder als sozialpsychologische Erklärung. Klar ist: Auf allen Seiten wird der Ton rauer.
Wenn man mit Niklas Luhmann die Auffassung vertritt, die erste Aufgabe der Ethik sei die „Warnung vor der Moralisierung“ – und ich würde zudem noch gerne ergänzen: dies gesagt im Wissen darum, dass man nicht nicht moralisieren kann, aber sich an diesem blinden Fleck durch Beobachtung anderer Positionen selbstkritisch abarbeiten sollte –, dann sind auch die ersten Reaktionen auf der Metaebene wohlbekannt: Man solle im Gespräch bleiben, auf Zweifel eingehen, proaktiv den Menschen begegnen und auch Impfungen niedrigschwellig anbieten. Schließlich sei nicht jeder Impfverweigerer ein Impfgegner, man müsse unbedingt die Spaltung der Gesellschaft verhindern, Differenzsensibilität und Ambiguitätstoleranz üben, um auf diese Weise die eigene Position nicht zu verabsolutieren und offen für die anderen zu bleiben.
Hat man diese üblichen Erwartungen an andere und Erwartungserwartungen an sich selbst auf seinem Ethikschirm, wird man die Äußerung von Montgomery als entweder unglücklich, missglückt oder misslich bezeichnen. Sicher ist: Impfverweigerer und Impfgegnerinnen werden sich durch solche Äußerungen kaum zu einer Impfung bewegen lassen. Vermutlich werden seine Worte sogar Öl ins Feuer gießen und spalterisch wirken. Doch andersherum gefragt: Wäre es in jedem Fall schlimm, Spaltung zu betreiben oder zumindest in Kauf zu nehmen? Oder vorsichtiger formuliert: Unter welchen Bedingungen wäre es erlaubt, ja vielleicht sogar geboten, Spaltung und Konflikt in Kauf zu nehmen und auf scharfe Wortwahl nicht zu verzichten?
Unternehmen wir zur Beantwortung zunächst ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die zu Dreivierteln aus braven Steuerzahlenden bestünde, mit deren Geld die Infrastruktur des betreffenden Landes bezahlt würde – eine Infrastruktur, die von allen Bürgerinnen und Bürgern reichlich genutzt wird. Dem letzten Viertel dagegen gelingt es nicht durch „1000 legale Steuertricks“, sondern durch Geschäfte à la Cum Ex und Cum Cum, den Staat, also die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger, ehe die es merken, um Milliarden Euro zu „erleichtern“.
Empörung als Ausdruck moralischer Intuition
Man stelle sich weiter vor, in dieser Gesellschaft dürften Gesetzesänderungen nur in bestimmten Intervallen durchgeführt werden. Dann kommt das Verhalten der Minderheit heraus. Was würde man von der Mehrheit erwarten? Würde man es für angemessen erachten, dass sie stoisch die Hände in den Schoss legte und sagt: „Legitimation durch Verfahren! Wir müssen halt warten, bis die nächste Gelegenheit zur Rechtsänderung kommt, dann gerne ein neues Gesetz; aber bis dahin ist Ruhe erste Bürgerpflicht.“ Ich unterstelle einmal: Eine solche Reaktion hielten die meisten für unangemessen: zu devot, zu ungerecht gegenüber denen, die die Infrastruktur, etwa die Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten, dringend benötigten.
Sozialpsychologisch erwarteten wir wahrscheinlich vielmehr, dass sich Empörung Bahn bricht und die Wortführenden dieser Empörung versuchten, möglichst viele zu einer raschen Änderung der Verfahrensordnung zu bewegen, sodass das asoziale Verhalten der Minderheit schnellstmöglich abgeschafft werden könnte. Oder aus der Metaperspektive formuliert: Ein Sinn für Ungerechtigkeit ist sozialpsychologisch und ethisch oft Bedingung für die Suche nach einer besseren – sprich hier: gerechteren – Gesellschaft. Nicht immer artikuliert sich der Sinn für Ungerechtigkeit in akademischer Korrektheit – auch einem wohlsituierten Ärztevertreter darf dann eine überspitzt scharfe Formulierung erlaubt sein.
Nach nun bald zwei Pandemiejahren, in der zweifellos viele schwere politische Fehler gemacht wurden, vor allem aber tieftraurig und traumatisierend gestorben und Abschied genommen wurde, ist nachvollziehbar, dass diejenigen, die Freiheit immer auch mit Solidarität, Verletzlichkeit und Anerkennung anderer zusammendenken, die also Freiheit konstitutiv als soziale verstehen, sich nun empören, lauter werden und rufen: „Stopp! Es reicht! Ihr nehmt uns nicht länger in Geiselhaft, wir lassen uns nicht länger tyrannisieren.“ Soweit der legitime, oft rohe und raue Sinn für Ungerechtigkeit.
Sicher: Dieser Sinn für Ungerechtigkeit hat eine verkürzende und emblematische Funktion. Es ist natürlich nur von allen freiwillig Ungeimpften und nicht von denen die Rede, die sich noch nicht oder aufgrund medizinischer Gründe nicht mehr oder überhaupt nicht impfen lassen können. Und ja, wenn irgendwann der dritte oder vierte Booster nötig ist, dann ist mit dieser verkürzenden Formulierung von der „Tyrannei der Ungeimpften“ die Grundhaltung untermauert: „Mit leichtem Aufwand könntest Du Verantwortungsmuffel die Situation für Dich und andere verbessern, aber Du unterlässt es!". Gegen die Haltung unsolidarischen Freiheitspathos protestiert die Empörung als Ausdruck moralischer Intuition oder Beurteilung aus dem Geist einer konstitutiv sozialen Freiheit.
Kein Whataboutism
Allen, die unruhig geworden sind, sei gesagt: Richtig, in diesen Gefühlen und Einstellungen geht Ethik nicht auf, kann aber regelmäßig auch nicht ohne sie auskommen. Um zu überprüfen, ob moralische Gefühle – hier die Empörung über Impfgegner – angemessen sind, kennt die Ethik einigermaßen etablierte Verfahren. Um nur die zwei wichtigsten Prüffragekreise zu nennen: Mit der pflicht- und gerechtigkeitsethischen Tradition, mit den großen Vertretern Kant und Rawls voran, wird man fragen, ob eine Handlung(seinstellung) verallgemeinerbar ist, ob sie Mindeststandards des gerechten, also für möglichst alle verträglichen Lebens achtet – und sofort ist natürlich klar, dass alle diese Konzepte trotz ihres Verallgemeinerungsanspruch hochgradig interpretationsbedürftig sind.
Mit der konsequentialistischen oder utilitaristischen Tradition wird man nach Nutzen, Schaden, und vermeintlich außermoralischen Konsequenzen von kollektiven und individuellen Entscheidungen, Handlungen, aber eben auch Unterlassungen fragen; und auch hier ist klar: Was „außermoralisch“ ist und ob es das überhaupt gibt, ist höchst umstritten. Aber so ist Ethik: Sie deduziert nicht einfach moralische Prinzipien oder identifiziert „moralische Tatsachen“, sondern sucht nach Angemessenheit individuellen und kollektiven Verhaltens sowie von Lebensformen in einer komplexen, also ausdifferenzierten und pluralen Welt. Diese Komplexität nicht wahrnehmen zu wollen, wäre selbst unterkomplex.
Angemessenheit verlangt für eine konkrete Ethik, trotz Orientierung an einigermaßen stabilen oder zumindest trägen ethischen Prinzipien, immer auch Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension eines komplexen ethischen Problems zu eruieren. Auf weitere der Ethik (selbst-)kritisch zur Verfügung stehende Instrumentarien verzichte ich, um nicht eine Hyperkomplexität zu erzeugen, die dann oft zu einer resignativen Einstellung à la „Es ist ja doch alles egal!“ oder zu Whataboutism („Aber in diesem oder jenem Fall – und man findet fast immer einen solchen Fall – agieren wir völlig anders, und deshalb müssen wir uns auch hier nicht anstrengen“) führt. Einer solchen Position sei hier entgegengehalten: Nein, selbst in hyperkomplexen Lagen wie der Pandemie gibt es auf Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension blickende politische und ethische Urteile, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort als sachlich und sozial angemessen erscheinen, aber unter Änderung der Bedingungen auch revidierbar sind, ja sein müssen.
Revidierbarkeit spricht also überhaupt nicht gegen bestimmte politische und ethische Urteile. Das Gegenteil ist der Fall. In einem sachlich und sozial so volatilen Geschehen wie der Pandemie wäre es geradezu überraschend, um nicht zu sagen ein Zeichen mangelnder reflexiver und handlungspraktischer Trägheit, wenn man nicht auf Veränderungen reagieren würde. All das im reflexiven Gepäck möchte ich nun skizzieren, warum ich das Montgomery'sche Diktum zwar für scharf, kommunikativ vielleicht auch für zu scharf, aber nach den genannten Sinndimensionen von Zeit, Raum, Sache und Sozialität für legitim erachte.
Impfen ist persönlich, aber nicht privat
Vorab aber nochmals zur Erinnerung: Wir befinden uns bald im dritten Jahr der Pandemie, die Zahlen gehen so hoch, dass man sich in einer Zeitschleife gefangen gefühlt. Richtig ist daher, dass die Formulierung „Die Pandemie ist jetzt eine Pandemie der Ungeimpften“ zunehmend unplausibler wird, weil eben zunehmend auch wieder Geimpfte betroffen sind, auch wenn – nach jetzigem Wissensstand – sie in der Regel nicht so stark erkranken und auch die Viruslast bei ihnen geringer ist und sie daher meistens auch nicht so starke Überträger sind wie der Durchschnitt der Ungeimpften. Dennoch gilt nach wie vor: Die Impfung ist das effektivste Mittel gegen die Ausbreitung des Corona-Erregers. Fürs Protokoll und die ethische Argumentation kann ebenso festgehalten werden, dass die bekannten Vakzine milliardenfach gespritzt und erprobt sind. Verschwindend gering ist die Zahl der Nebenwirkungen.
Es ließe sich eine lange medientheoretische, wissenssoziologische und gesellschaftstheoretische Debatte darüber führen, warum (zu) vielen Menschen dennoch wider alle Standards wissenschaftlichen Wissens an ihrer Meinung festhalten, es verhielte sich doch anders, obwohl sie sonst von morgens bis abends wissenschaftlichem und technischem Wissen und seinen Ergebnissen trauen – gerade wenn es für sie eng wird, etwa wenn sie auf die Intensivstation verlegt werden müssen, weil sie ungeimpft Covid-19 bekommen haben. Selbstverständlich führt die Impfung nicht dazu, alle anderen bekannten Verhaltensmaßnahmen abzublasen; selbstverständlich kommt es zu Impfdurchbrüchen; selbstverständlich muss man darüber nachdenken und, wie es zunehmend passiert, gerade in Bereichen mit vulnerablen Gruppen auch Genesene und Geimpfte wieder zu testen – alles geschenkt.
Aber das ändert – nach überragendem Stand wissenschaftlichen Wissens in dieser Frage – nichts daran: Die Impfung ist das wirkungsvollste und sicherste Mittel der Pandemiebekämpfung. Würden sich alle, die es medizinisch können, impfen lassen, hätten „wir“ (und ich rede vom Raumindex „Deutschland“) die Pandemie einigermaßen im Griff. Man schaue nur nach Portugal, das über eine extrem hohe Impfquote verfügt. Und damit sind wir nach diesen Aspekten der Sachdimension schon in der Sozialdimension. Es ist – in der kantischen Tradition formuliert – folgendes ethisch geboten: eine starke moralische Pflicht, etwas zu tun, wenn der Aufwand dafür gering, der Nutzen für einen selbst und mittelbar auch für andere und die Gesellschaft als ganze hoch ist, bei Unterlassen die Wirkung dieser Handlung nachlässt, vergleichbar effektive und effiziente Alternativen nicht vorliegen und zugleich das Risiko der Selbstschädigung gering ist.
All das, was die Jurist:innen unter das Stichwort „Verhältnismäßigkeit“ packen, ist beim Impfen erfüllt. Wie die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx immer wieder einschärft: Impfen ist eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache, denn die Konsequenzen der Nichtimpfung sind in der Gesellschaft erheblich – das fängt bei einem selbst oder als Angehörige von Risikopatienten an, geht über die in diesem Maße unnötige Belegung von Intensivbetten und dadurch nötige Verschiebung anderer wichtiger Operationen wie Bypass-Legung oder Krebs-OPs und reicht bis hin zu den – von vielen Impfverweigerern wie selbstverständlich verlangten – Übernahme der Kosten von Bürger:innentests. Von den anderen psychischen und sozialen Kollateralschäden, etwa im Bereich der Entwicklung von jungen Menschen durch noch immer andauernde Beeinträchtigung der Bildung und Freizeitaktivitäten oder des betreuten Lebens in Einrichtungen, ganz zu schweigen.
Die Geduld neigt sich dem Ende
Das sind alles starke psychische und soziale Schädigungen, die in der Größenordnung und Dauer vermeidbar wären, hätten sich alle, die es können, geimpft und sich nicht auf fadenscheinige oder sehr selbstbezogene Gründe berufen. Nicht nur die Solidarität mit vielen vulnerablen Menschen, die darauf hoffen, dass möglichst viele zu ihrem Wohle sich die proportional kleine Unannehmlichkeit der Impfung unterziehen, kann als ethisches Kriterium in Anschlag gebracht werden. Vielmehr greift auch das viel elementarere Schädigungsverbot, das im Sinne der negativen Freiheit daran erinnert, dass die Freiheit des einen eben an der Schädigung der Freiheitsmöglichkeiten des anderen – überprüft anhand der oben genannten pflichtenethischen Subkriterien – ihre Grenze findet.
Zur Sozialdimension gehört im Sinne des reflektierenden Nachvollziehens der Empörung über die Impfverweigerer auch: Niemand kann ernsthaft behaupten, dass das Gespräch mit Impfskeptikern, -muffeln, -müden, - bummlern oder -gegnern nicht auf unterschiedlichsten Kanälen und Ebenen gesucht wurde. Ja, richtig ist – und ich weiß nicht, wie oft ich seit Anfang August, seit man also sehen konnte, dass die Kurve der Impfquote abflacht, in fast jedem Medienbeitrag vergeblich gefordert habe, Impfkampagnen massiv und differenziert nach Zielgruppen zu organisieren und zu starten –, dass man immer mehr hätte machen können. Das ändert nichts daran: Wer wollte, konnte sich umfassend informieren.
Offensichtlich liegen die Gründe tiefer – das bestätigen alle Studien, allen voran das wiederholte Monitoring zu Covid-19-Themen, das an der Universität Erfurt durchgeführt wird. Wenn man aber in einer jüngeren Forsa-Studie lesen muss, dass nahezu 90 Prozent derjenigen, die sich noch nicht haben impfen lassen, keine oder geringe Neigung verspüren, dies nun endlich nachzuholen, dann kann man auch der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr ungebührliche Ungeduld gegenüber dieser Gruppe vorwerfen. Dann scheint der – in den Worten Jean-François Lyotards – Widerstreit der Positionen erschöpft zu sein.
Selbstverständlich mögen, wider alle Hoffnungslosigkeit, noch ein paar Letzte umgestimmt werden. Viele werden es nicht mehr sein. Angesichts der massiven medizinischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ist es bei dieser sistierten Haltung nicht ungebührlich, wenn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger – wie im oben skizzierten Beispiel des moralischen Steuerbetrugs – sagt: „Ok, wir tolerieren Eure Freiheit, wir tolerieren aber nicht mehr, dass Ihr diese Krankheit in unsere Kreise weiterverbreitet. Die Konsequenzen Eures Freiheitsgebrauchs müsst Ihr dann eben tragen!“ Es geht nicht um Diskriminierung und Stigmatisierung. Es ist primär Selbstschutz angesichts erkennbar unvernünftigen Verhaltens.
Wer spaltet hier?
Richtig ist: Das hat dann eine diskriminierende Folge. Unrichtig ist, dass dieser diskriminierende Effekt unbegründet ist oder sich gar mit NS-Taten vergleichen ließe – diese Vergleiche sind schamlos. Mit Blick auf die zugespitzte, wohl überspitzte Formulierung „Tyrannei der Ungeimpften!“ gemünzt: Alle, die Montgomery Spaltung vorwerfen, müssen sich fragen: Wer spaltet die Gesellschaft? Diejenigen, die andere schädigen und unsolidarisch auf ihre „Freiheit“ pochen, oder der, der auf die Schädigung hinweist?
Tatsächlich verhält es sich so, dass in der Zustimmung zu solch zugespitzter Wortwahl die Mehrheitsgesellschaft sich ihrer eigenen Position expliziter gewahr wird, sie sucht und findet darin ein Framing. Die Figur der schweigenden Mehrheit hat ja lange Zeit ihr Gutes, weil eben die Gesellschaft komplex ist, sich Problemlagen nicht so einfach mit einem globalen Steuerungsappell lösen lassen und sich erstaunlich oft Artikel 3 des Rheinischen Grundgesetzes erfüllt: „Et hätt noch emmer joot jejange.“ Wegen dieses – gerade in Deutschland erfreulich oft – lange anhaltenden Schweigens darf man nicht davon ausgehen, dass es unter der Decke des Schweigens nicht brodeln würde. Und so sorgen solche Schlüsselformulierungen für Ventile und senden das unmissverständliche Signal an die Impfverweigerer: So geht das nicht mehr lange weiter.
Und damit sind wir bei der Zeitdimension der Impfverweigerung. Der immer wieder aus dem Lager (der Sympathisanten) der sich verfolgt fühlenden, obwohl andere schädigenden und sich ohne hinreichende Gründe unsolidarisch verhaltenden Impfverweigerer unterbreitete Vorschlag, im Gespräch zu bleiben und noch mehr Aufklärung und Beratung zu verlangen, ist ja selbst nicht unschuldig und neutral. Mit jedem Tag, der die Zahl der Impfungen nicht signifikant erhöht, steigt das Risiko von Impfdurchbrüchen und Mutationen. Die ungenutzt verrinnende Zeit spielt den Impfverweigern gewissermaßen in die Hand, auf dass sie sagen können: „Seht Ihr, die Impfung bringt ja gar nichts!“. Dass damit das Risiko der eigenen Erkrankung oder der Erkrankung der noch nicht impfbaren Kinder oder immungeschwächten Großeltern massiv steigt, scheint man um des Rechthaben-Wollens in Kauf zu nehmen. Kurzum: Zeit ist auch für eine auf Verallgemeinerung zielende Ethik von Belang. Dies gilt erst recht angesichts drohender Schäden bei anhaltendem Nicht-Handeln.
Die durch Montgomery, Wieduwilt und andere artikulierte moralische Empörung über das unvernünftige, andere schädigende, unsolidarische Verhalten von Impfverweigerern wird nicht ohne Konsequenzen sein. Ethik ist nicht politische Entscheidung, sondern nur Entscheidungskriterienberatung in einer komplexen Gesellschaft unter möglichst genau zu analysierenden Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimensionen. Aber auch diese Abwägung hat ihre zeitlichen, räumlichen, sozialen und sachlichen Grenzen und bleibt der Stachel der Ungerechtigkeit in jedem Versuch, einer Sache und den sie vertretenden Positionen Gerechtigkeit zukommen lassen zu wollen. Auf die Unvermeidlichkeit wie Notwendigkeit dieser Grenze hat Jacques Derrida eindrücklich in seinem Buch Gesetzeskraft hingewiesen.
Der drohende Schaden ist zu groß
Daraus folgt nicht, auf Entscheidungen zu verzichten, sondern sie immer zu überprüfen. Entscheidungen zu treffen, beispielsweise ob und wenn welche Sanktionen eine Gesellschaft ergreift, muss und soll sie selbst – vor allem durch die dafür gewählten Repräsentanten. Aber ethische Reflexion kann dazu beitragen, Beweislasten zu identifizieren, also zu benennen, wer in der komplexen Situation eher als andere Verantwortung trägt, dass wir noch nicht aus der Pandemiesituation herausgekommen sind. Wie man dann verfährt, kann ethisch weiter reflektierend begleitet werden, ist aber vor allem auch mit Hilfe juristischer, (sozial-)psychologischer und soziologischer Expertise zu eruieren.
Klar, im Gespräch muss man dennoch bleiben; die Hoffnung aufgeben: Nie! Aber niemand kann erwarten, dass man während dieses Gesprächs weiter nichts, jedenfalls zu wenig tut. Dazu ist der drohende Schaden zu groß. Klar ist deshalb ebenso: Schädigung, mangelnde Solidarität, egoistisches Freiheitsverständnis verträgt eine Gesellschaft auf Dauer nicht. Ob man das „Tyrannei der Ungeimpften“ oder „Geiselhaft der Corona-Schwurbler“ nennt, sei dahingestellt, die dahinter liegende Problematik ist ethisch schwer akzeptabel und verlangt akut, Maßnahmen zu ergreifen. •
Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war er Mitglied des Deutschen Ethikrates, von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.
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