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Illustration: © Michael Kirkham

Reportage

Überwinde dein Wollen

Jack Fereday veröffentlicht am 15 Oktober 2018 12 min

Im nordindischen Bodhgaya soll Buddha zur Erleuchtung gelangt sein. Mittlerweile strömen zahllose Menschen aus dem Westen hierher, um durch die Vipassana-Meditation ihren inneren Frieden zu finden. Unser Reporter machte sich mit dieser asketischen Technik vertraut, die Entspannung und Kasteiung gleichermaßen verspricht

 

Der Schmerz strömt durch meinen Körper wie durch einen geschlossenen Kreislauf. Mal ist es der gekrümmte Rücken, mal der wund gesessene Hintern, dann wieder sind es die aberwitzig angewinkelten Beine. Nach fünf Stunden Meditation fühle ich mich, als hätte mich ein LKW überrollt. Dabei ist es erst 11 Uhr morgens, am ersten Tag meines Aufenthalts. Diese Quälerei habe ich Andrew zu verdanken, einem jungen Engländer, der Indien auf einem Motorrad durchquerte und mir als Erster die Vorzüge der Vipassana-Seminare anpries. „Dort hast du die Möglichkeit, dich vom Chaos des Lebens zu lösen“, redete er mir ins Gewissen. Der Nietzscheaner in mir konnte damit jedoch nur wenig anfangen. Jeden Tag in einer menschenleeren Gegend zu meditieren, schien mir wie der Inbegriff von Weltflucht. Die Aussicht auf zehn Tage im Zeichen einer selbstverliebten Nabelschau behagte mir nicht. Aber dann kam ich mit Leuten ins Gespräch, die wie Andrew am Seminar teilgenommen hatten, und wurde neugierig. Woher kommt die Begeisterung für eine solch asketische Praxis? Und welche Auswirkungen würde sie auf meinen Körper haben? Schließlich überzeugte mich eine Inderin, die für ein großes internationales Unternehmen arbeitet, es zumindest mal zu versuchen. „Mach es“, redete sie mir zu. „Du wirst nach dieser Erfahrung eine ganz andere Person sein.“

Mit dem Zug erreiche ich die im Nordwesten Indiens gelegene Stadt Bodhgaya. Es ist ein heiliger Ort, in dem laut Überlieferung Buddha unter einem Pappelfeigenbaum vor 2500 Jahren die Erleuchtung fand. Seinem Beispiel folgend begebe ich mich in das Dhamma-Bodhi-Meditationszentrum, das eine große Mauer von der Außenwelt trennt. Im Aschram hat die Ruhe fast etwas Surreales. Die Seminarteilnehmer erlegen sich eine „edle Stille“ auf. Das Redeverbot gilt ohne Ausnahme, ebenso sind Alkohol, Drogen, Smartphones, Schreiben, Lesen und jegliche Form von Gewalt untersagt. Um wirklich jede Ablenkung zu vermeiden, werden die 100 Teilnehmer, darunter etwa 30 Ausländer, nach Geschlecht aufgeteilt. Im Aschram herrscht eine geradezu klösterliche Ordnung: Um 4 Uhr aufstehen, gegen 21 Uhr geht es ins Bett. Dazwischen werden – um 6 Uhr und um 11 Uhr morgens – zwei vegetarische Mahlzeiten serviert. Mehr als zehn Stunden pro Tag verbringe ich in einem großen Meditationsraum, auf einem blau karierten Teppich, der sich als erschreckend dünn erweist. 

 

Die Aura der Askese

 

Das Seminarzentrum ist um einen großen Garten angelegt, in dem die gedankenversunkenen Schüler sich in der meditationsfreien Zeit lautlos die Beine vertreten. Manche verweilen vor einem kleinen Tümpel, in dem blaue Lotusblumen blühen. Andere gehen im Kreis, bevor sie sich in ihre „Klosterzellen“ zurückziehen. Deren weißen Wände sind notdürftig verputzt, die Betten karg. Ich teile meine Zelle mit einem großen blonden Mann – und einer riesigen Kakerlake. Was Letztere betrifft, sind die Regeln hier eindeutig: Ich darf dem Tier kein Haar krümmen. Als wollte die Kakerlake meine Prinzipienfestigkeit testen, krabbelt sie mir schon in der ersten Nacht auf Rücken und Gesicht herum. Ich bleibe standhaft und finde mich mit allem ab: den Unbequemlichkeiten, der Langeweile, dem Hungergefühl und der drückenden Hitze. Hoffentlich wird sich der Verzicht lohnen. Aber was genau erwarte ich eigentlich?

„Das Ziel dieser Meditation besteht nicht darin, die Konzentration zu verbessern. Die Konzentration ist lediglich ein Instrument, das einem höheren Zweck dient: der geistigen Läuterung. Die Meditation tilgt den mentalen Schmutz, überwindet die Negativität in unserem Inneren, befreit uns von jeglichem Leid und ebnet den Weg zur Erleuchtung.“ Mit seiner sonoren Stimme zieht Satya Narayan Goenka die Zuhörer in seinen Bann. Es ist ein sanftes, angenehm rhythmisiertes Brummen. Sorgfältig gesetzte Sprechpausen verleihen den Sätzen eine fast mystische Aura. Wir erblicken in diesem abgedunkelten Raum einen fülligen, etwa 60-jährigen Mann, dessen Augen uns freundlich ansehen. Doch er spricht zu uns aus einem Flachbildschirm – denn Goenka ist seit 2013 tot. Jeden Abend bringt er uns eineinhalb Stunden lang die philosophische Bedeutung der Vipassana-Meditation näher, die Goenka vor 50 Jahren zunächst in Indien und anschließend in der gesamten Welt bekannt gemacht hat. Diese asketische Praxis ist durch die Theravada-Schule überliefert, einem der ältesten Zweige des Buddhismus. Der nachträglich als Hinayana bezeichnete Urbuddhismus ist auch unter dem Namen „kleines Gefährt“ oder „schmaler Weg“ geläufig. Er soll zur Selbsterkenntnis verhelfen und uns von unseren Leidenschaften „befreien“. Doch im Unterschied zur Lebenskunst der antiken Griechen, die der abstrakten Vernunft – dem Logos – den Vorrang einräumt, stützt sich die Vipassana-Meditation auf die empirische Beobachtung unseres Körpers. „Die unmittelbare Erfahrung ist von wesentlicher Bedeutung“, erläutert Goenka. „Erkenne dich selbst – diese Aufforderung umfasst hier alles von der ungefilterten und für uns sichtbaren Wirklichkeit bis hin zu der feinstofflichen Realität von Körper und Geist.“

Sobald wir die Augen zu Beginn jeder Meditationssitzung schließen, gibt Goenka wie der Zauberer von Oz Anweisungen aus dem Off, die uns die an den Wänden angebrachten Lautsprecher übermitteln. Man solle den natürlichen Rhythmus der Atmung beobachten und sich dabei auf das Areal um die Nasenlöcher konzentrieren. Diese einfach klingende Aufgabe erweist sich jedoch als erstaunlich schwierig. Meine Gedanken schweifen im Nu ab. Zwischen all den Erinnerungen und Zukunftsplänen gelingt es mir nicht, mich auch nur eine Minute lang auf meine Atmung zu konzentrieren.

 

Innere Projektionsflächen

 

Abends wird mir dann klar, dass genau darin das Ziel dieser Übung bestand: „Ihre Gedanken folgen keiner Logik; sie machen, was sie wollen“, erklärt uns der Guru. „Normalerweise würde man diese Gewohnheit für ein Anzeichen von Wahnsinn halten. Aber wenigstens wissen Sie jetzt, dass unter Ihnen einer verrückter als der andere ist!“ Unser Geist, so Goenka, versuche der Wirklichkeit fortwährend in Richtung Vergangenheit oder Zukunft zu entfliehen. So entstünden „Unreinheiten“, die sich in Form von Begierden oder Abneigungen äußern. 

Anziehung wie Abstoßung sind auf Objekte gerichtet, die sich unserem Zugriff entziehen. Folglich geht es in den ersten vier Tagen vor allem darum, sich dieser Gewohnheit zu entledigen, indem man die Aufmerksamkeit auf eine gegenwärtige Wirklichkeit – in dem Fall: unsere Atmung – verlagert. Alle halbe Stunde übermannt mich die Langeweile und ich öffne die Augen. Um mich herum zeichnet sich unter den Meditierenden so etwas wie eine Hierarchie ab. In der ersten Reihe sitzen die „Sphinxen“ mit geradem Rücken, so wie es die Lotusposition verlangt. Sie bewegen sich keinen Millimeter, kein Räuspern ist zu vernehmen. Es sind fortgeschrittene Schüler, die bereits seit Jahren meditieren. Das zeigt sich auch in ihrem Erscheinungsbild. Wie etwa bei meinem blonden Zimmernachbar, der sich nie ohne tibetanischen Schal zeigt. Dahinter sind all die Anfänger aufgereiht, die wie ich ihre liebe Not mit dem Stillsitzen haben. Wir wechseln alle fünf Minuten die Sitzhaltung, schauen auf die Uhr, und wenn sich unsere verstohlenen Blicke treffen, ist da ein Gefühl der Beschämung, aber auch des stillschweigenden Einverständnisses. 

Wenn ich meine Augen wieder schließe, verwandelt sich mein Bewusstsein in einen Overheadprojektor, der Bilder auf die Leinwand meines inneren Auges wirft: Flashbacks aus meiner Kindheit, deren Eindrücklichkeit mich beinahe überwältigt. Ich liefere mich für zunehmend längere Zeiträume dem Rhythmus meiner Atmung aus. Es ist ein chaotisches Hin und Her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das vor keiner noch so verborgenen Ecke meines Gedächtnisses haltmacht. Am Nachmittag des dritten Tages unterbricht ein leises Wimmern die Stille. Jemand im Raum weint. Andrew hatte mich vorgewarnt: „Emotionen, von denen du glaubtest, sie wären längst verschüttgegangen, tauchen unvermittelt wieder auf, was ziemlich verstörend sein kann.“ Am Abend meint Goenka dazu: „Wenn Sie sich auf Ihre Atmung konzentrieren, ist Ihr Geist rein, denn diese Atembewegung kann man weder begehren noch von sich weisen. Doch der Moment der Reinheit hat beträchtliche Auswirkungen auf all die Unreinheiten, die sich im Unterbewussten abgelagert haben. Einige dieser Unreinheiten steigen zur Oberfläche des Bewusstseins auf und schlagen sich dort als diffuses Unwohlsein nieder.“ Goenka vergleicht diese Gefühlszustände mit dem Eiter, der sich um eine Wunde bildet und die Abwehrfunktion des Körpers stärkt. Ähnlich wie der physische Schmerz der Wundheilung zuträglich ist, seien diese Emotionen eine unumgängliche Etappe auf dem Weg der Gesundung.

 

Heraklit in Extremform

 

Die eigentliche Vipassana-Meditation beginnt erst am vierten Tag. Sie besteht aus einer Achtsamkeit, die sich auf sämtliche Körperempfindungen richtet. Diese Übung vollzieht sich in einem Zustand vollendeten „Gleichmuts“ (die Bezeichnung im Pali, der liturgischen Sprache, in der die buddhistischen Schriften des Theravada verfasst sind, lautet Shamatha, was so viel bedeutet wie „ruhiges Verweilen“). Man wohnt seinen eigenen Gefühlsregungen als bloßer Beobachter bei (um sie dadurch als Sankhara, Zusammengesetztes, kenntlich zu machen), das heißt: ohne sich ablehnend oder zustimmend zu ihnen zu verhalten. Irgendwann geht die jeweilige Empfindung schließlich vorüber und der Meditierende verinnerlicht die Einsicht in die Unbeständigkeit der Welt (im Pali: Anicca). Um das zu veranschaulichen, radikalisiert Goenka ein Gedankenbild, das auf Heraklit zurückgeht. „Dass alles permanenter Veränderung unterworfen ist, lässt sich am Dahinströmen eines Flusses erkennen. Aber woran merkt man, dass auch der Mensch, der im Fluss badet, in jedem Moment ein anderer ist?“ Für die Beantwortung dieser Frage kommt der Selbstbeobachtung ein hoher Stellenwert zu. Nur so kann man auch vermeintlich ungreifbaren Aspekten der Wirklichkeit auf den Grund gehen. „Der einzige Weg, die Illusion (der Beständigkeit, d. Red.) zu durchbrechen, ist die Erkundung unseres Inneren, um die Wirklichkeit unserer physischen und geistigen Verfasstheit gleichermaßen zu erfahren.“ Wenn da nicht dieser 90 Kilogramm schwere Körper wäre, unter dessen Gewicht meine Beine schon 30 Minuten lang ächzen, als wollten sie mir in Erinnerung rufen, dass der Schmerz von großer Beständigkeit sein kann und nach und nach jede andere Empfindung verdrängt.

Im Laufe des fünften Tages dann der erste Durchbruch: Ich meditiere zwei Stunden, ohne mich zu bewegen. Der Schmerz hat nichts von seiner Intensität eingebüßt, aber ich begegne ihm inzwischen mit mehr Abstand. Ich beobachte ihn, als wäre er kein Teil von mir und warte geduldig, bis er weicht. Während ich meinen Körper scanne, erfasse ich alle möglichen Empfindungen und Sinneseindrücke – Hitze, Schweiß, kleine Luftbewegungen – und lasse sie an mir vorüberziehen. Mein Bewusstsein irrt zwar immer noch ziellos umher, aber nicht mehr so stark und in geregelteren Bahnen. Abends im Park betrachte ich die anderen Seminarteilnehmer, die verschiedenen Altersgruppen angehören und unterschiedlicher Herkunft sind. Schweigend sitzen sie da, doch vereint sind wir alle auch durch eine seltsame Benommenheit. Freude und Trübsal scheinen gleichermaßen verschwunden. Mir kommt das Ende von Albert Camus’ Roman Der Fremde in den Sinn, als die Hauptfigur Meursault sagt: „Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.“

 

Leiden und „Erlösung“

 

Mit jedem Abend verdichtet sich der Eindruck, es hier mit einem zutiefst pessimistischen Blick auf die Menschheit zu tun zu haben. Schreiend kommen wir auf die Welt, so die sonore Stimme des Gurus, und von der Wiege bis zur Bahre bestehe das Leben aus nichts anderem als Leid (Dhukka). Die einen leiden, weil sie das, was ist, nicht wollen; die anderen, weil sie das, was nicht ist, begehren. In der buddhistischen Theravada-Tradition, auf die sich Goenka beruft, gibt es aus diesem Dilemma nur einen Ausweg: Erst wenn man realisiere, dass nichts von Dauer (Anicca) ist, und man dieser Tatsache auch anhand all jener Empfindungen und Wahrnehmungen gewahr wird, die uns fälschlicherweise den Eindruck einer stabilen Identität (Anatta) vermitteln, kann man sich von diesen Illusionen lossagen. „Wer am Vergänglichen festhält, wird leiden“, gibt Goenka zu Protokoll.

Diesen Ehrgeiz, den Sumpf des Begehrens trockenzulegen, charakterisiert auch das Denken Arthur Schopenhauers. Fasziniert vertiefte sich der Philosoph in die Lektüre der Upanischaden, jener heiligen Texte des Hinduismus, die auch den Buddhismus prägten. Für Schopenhauer sind unsere Begierden illusorische Manifestationen unseres ziellosen Willens zum Leben. Der Asket versagt sich die Begierden, verneint den Willen zum Leben und entkommt dadurch dessen drängenden Impulsen. „Ein solcher Mensch, der, nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur, endlich ganz überwunden hat“, so Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung, „ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig.“ Ihn kann „nichts mehr ängstigen, nichts mehr bewegen: denn alle die tausend Fäden des Wollens, welche uns an die Welt gebunden halten, und als Begierde, Furcht, Neid, Zorn, uns hin- und herreißen, unter beständigem Schmerz, hat er abgeschnitten.“ Doch welchen Raum ließe eine solche Einstellung den großen menschlichen Leidenschaften – der Kunst und der Liebe –, die schmerzhafte Strapazen erfordern und unserem Leben unendlich viel Sinn verleihen? Was bliebe von dieser schöpferischen Triebkraft, wenn wir den Begierden abschwören?

 

Therapie oder Lifestyle?

 

Bodhgaya ist kein Ort für kritische Einwände. Das liegt zunächst am Redeverbot. Doch selbst wenn wir uns unterhalten dürften, wer wäre der Adressat unserer Zweifel? Satya Narayan Goenka ist seit fünf Jahren tot. Zudem dürfen wir uns zwar an die Lehrer wenden, die uns durch den Meditationsprozess führen, aber nur, solange unsere Fragen die Meditationstechnik und nicht etwa das philosophische Gerüst des Ganzen betreffen. So wundert es nicht, dass wir zehn Tage lang fast ausschließlich die Stimme des Meisters hören, der im Grunde ein Selbstgespräch vor menschlichen Automaten führt, die ihre Persönlichkeit über Bord geworfen haben. Am Ende jedes Vortrags bringen sie ihre untergebene Zustimmung zum Ausdruck: „Sadhu, Sadhu, Sadhu!“

Die versteinerten Gesichter, der lethargische Gestus, die Anrufungen des Gurus, der nicht müde wird, uns die frohe Botschaft unserer „Erlösung“ zu verkündigen. Es lässt sich nicht leugnen: Das Geschehen weist sektenähnliche Züge auf. Mir ist danach, eine Sitzung auszulassen und mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Sofort kommt Jeff, ein ehemaliger Schüler, der nun als Freiwilliger mit dem Ablauf des Seminars betraut ist, und klopft an meine Tür. Ich versuche ihm darzulegen, dass mir manche Ideen hier problematisch scheinen und ich kurz allein sein möchte. Seine vorgefertigte Antwort: „Dann solltest du noch mehr meditieren. Grübeln kannst du auch später noch.“

Am zehnten Tag wird das Gebot der „edlen Stille“ aufgehoben, die Automaten verwandeln sich allmählich wieder in Menschen. Ich plaudere mit Vincent, einem Franzosen aus Clermont-Ferrand, der ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht hat: „Ich kam hierher, um mich besser konzentrieren zu können“, sagt der ehemalige Vertriebsleiter, der seinen Job bei einem großen Lebensmittelkonzern vor zwei Jahren kündigte. „Mich erfüllte diese Arbeit nicht, es war so oberflächlich. Jeder leidet, aber oft bemerkt man es gar nicht. Im Laufe des Seminars registriert man plötzlich, dass man sich nicht einmal 30 Sekunden lang auf die eigene Atmung fokussieren kann, ohne an etwas anderes zu denken. Das ist doch unser ganzes Problem im Westen. Wir streben nach äußerlichem Glück und übersehen, dass es Glück nur in unserem Inneren gibt. Der Tempel der Freude ist in uns.“

 

Zurück im Chaos

 

Für andere ist die Vipassana-Meditation Teil eines Lifestyles, zu dem auch Yoga, New-Age-Praktiken, alternative Medizin oder halluzinogene Drogen gehören. Am elften Tag, nachdem das Seminar offiziell vorbei ist, entschließt sich eine Gruppe zu einer gemeinsamen Meditation an jenem Ort in Bodhgaya, wo Buddha sein spirituelles Erwachen erlebt haben soll – allerdings nicht ohne vorher einen Zwischenstopp im Happy Café einzulegen; die Pizza und den Käsekuchen haben sie sich schließlich verdient. „Ich habe diese spirituelle Neigung schon seit Jahren“, erzählt mir Lora, eine junge Grafikdesignerin aus Sydney, die bereits ihr zweites Vipassana-Seminar hinter sich hat. „Ich habe verschiedene Sachen ausprobiert. Doch erst hier habe ich die Wahrheit entdeckt. Mein erstes Seminar hat etwas in mir ausgelöst. Und jetzt habe ich das Gefühl, die Weisheit dieser Methode wirklich verinnerlicht zu haben. Ich bin über den Schmerz hinweggekommen und fühle mich seitdem viel ruhiger und ausgeglichener.“ 

Ich hingegen bin eher ratlos. Die Vipassana-Methode hat mir zweifellos geholfen, mich besser zu konzentrieren, denn sie dämmt die Reize ein, die beständig auf uns hereinprasseln. Wenn allerdings die Leidenschaften im Namen einer zum höchsten Ideal verklärten inneren Ruhe diskreditiert werden, kommt mir unweigerlich Nietzsches Nihilist in den Sinn. Ein solcher Weltverneiner verachtet alles, was sich ändert und wandelt. „Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein. (…) Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn.“ Nietzsche verhöhnt damit auch die prätentiösen Ambitionen Schopenhauers und Buddhas, die der Welt den Rücken kehren wollen. „Was für ein Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde Art.“

Eine gewisse Erleuchtung wurde mir aber tatsächlich zuteil. Während ich zehn Tage in einem Zustand unerschütterlicher Ausgeglichenheit schwebte, wurde mir bewusst, wie sehr ich das chaotische Leben liebe, die wilden Emotionen, die es so unvorhersehbar machen, die Sehnsucht, die ihm seinen einzigartigen Charakter verleiht – all das würde ich für nichts auf dieser Welt gegen eine meditative Weisheit eintauschen. •

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Artikel aus Heft Nr. 42 Okt./Nov. 2018 Vorschau
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