Vom Loslassen
Heute erscheint das neue Album von Kae Tempest The Line Is A Curve. Das zentrale Thema der Songs ist: Mehr mit weniger Druck machen.
Wer Kae Tempest vor ein paar Jahren – damals noch unter dem Vornamen Kate – live erleben durfte, musste zu dem Schluss kommen, dass die britische Dichterin gewaltig unter Druck steht. Die Intensität, mit der sie am Bühnenrand stand und das Publikum mit ihren Spoken-Word-Kaskaden überschüttete, war atemberaubend, am meisten vermutlich für die Künstlerin selbst. Und wenn sie nicht auf der Bühne stand, schrieb sie oder war im Aufnahmestudio, sechs Lyrikbände, vier Musikalben, drei Theaterstücke, ein Roman, ein Sachbuch, all das im Zeitraum von weniger als zehn Jahren. Offenbar ist diese Phase der Hochdampfproduktion nun erst einmal vorbei. Auf der neuen Platte gehe es ums Loslassen, lässt Tempest wissen, „das Loslassen von Scham, Angst und Isolation“ – und auch von Gender-Identitäten, Kate heißt jetzt Kae und identifiziert sich als nichtbinär.
Kompression und Erleichterung
Die erste Single zum Album heißt zwar More Pressure, thematisiert aber weniger den Druck als vielmehr die Erleichterung, wenn dieser endlich nachlässt: „More Pressure / More Release / Less Push / More Flow / Please – / Let Me Let Go.“ Dieses dialektische Verständnis von Kompression und Erleichterung erinnert an die Raumphilosophie des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright: Der entwarf bei seinen Häusern zwar häufig ausgesprochen enge, bedrückende Eingangspassagen – aber nur, damit die darauffolgenden Räume sich beim Betreten besonders großzügig anfühlten: „compression and release“ nannte er dieses Prinzip. Kae Tempest überträgt es nun auf die Musik – und tatsächlich, der vertraute Sprechgesang klingt lässig und entspannt wie nie. Man darf gespannt sein, welches Gefühl sich breitmacht, wenn Tempest nach der gegenwärtigen Tunnelzeit wieder eine große, offene Bühne betritt. •
Kae Tempest, „The Line Is A Curve“ (Fiction Records ), 08.04.2022