Warum verschieben wir alles auf morgen?
Sie lesen diesen Text, obwohl Sie eigentlich E-Mails abarbeiten, Wäsche waschen, die Steuererklärung erledigen müssten? Doch warum prokrastinieren wir überhaupt? Hier vier philosophische Erklärungen.
Sokrates
(469–399 v. Chr.)
„Aus Unwissenheit“
Kennen Sie das? Sie wissen genau, was Sie zu tun haben, aber Sie tun es nicht, ja, Sie kuscheln sich nur noch tiefer hinein in Ihren gemütlichen Sessel und schauen noch die zweite Staffel ihrer Lieblingsserie. Wie ist das möglich? Nach Platons Bericht hielt Sokrates die Vorstellung, wider den eigenen Willen zu handeln, für absurd. Denn der Mensch tue seiner Natur nach stets das, was er für gut hält. „Niemand, der weiß oder glaubt, dass etwas anderes besser ist als das, was er tut, wird dieses Letztere tun, da er doch das Bessere tun könnte“ (Protagoras). Es sind also Denkfehler, die uns vom rechten Weg abkommen lassen, zum Beispiel, weil wir uns über die Bedeutung einer zu erledigenden Aufgabe nicht im Klaren sind. Einfach nur faul sind Sie also auf keinen Fall!
Aristoteles
(384–322 v. Chr.)
„Aus Willensschwäche“
Wie bitte? Der Untätige ist nicht faul, sondern denkt nur falsch? Die Theorie des Sokrates widerspricht den Tatsachen, protestiert Aristoteles. „Die einen überlegen zwar, beharren aber infolge der Leidenschaft nicht bei ihrem Entschlusse“, so schreibt der Denker in der Nikomachischen Ethik. Man kann also durchaus wider besseres Wissen handeln, nämlich dann, wenn der vernunftgeprägte Wille (bulesis) dem Begehren (epithymia) unterliegt. Diese Willensschwäche (akrasia) ist heilbar, wenn man ihr nicht nachgibt. Gute Angewohnheiten, glaubt Aristoteles, können uns zu mehr Willensstärke verhelfen. Also lassen Sie sich gar nicht erst hängen. Seien Sie standhaft. Oder noch besser: Tauschen Sie den Fernsehsessel gegen einen Hometrainer aus!
Jon Elster
(*1940)
„Für den unmittelbaren Genuss“
Für Jon Elster fällt das Prokrastinieren in den Bereich des sogenannten hyperbolischen Diskontierens (hyperbolic discounting). „Gewinne, die in der Zukunft liegen, haben nur bedingt Einfluss auf Entscheidungen, die in der Gegenwart getroffen werden, und zwar umso weniger, je größer der Zeithorizont ist“, so führt der norwegisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler aus (Explaining Social Behavior, 2007). Deshalb vertagen wir bisweilen Dinge, die uns in der Zukunft große Befriedigung verschaffen, und setzen stattdessen auf kleinere, aber unmittelbare Genüsse. Sicher spielt dabei auch unsere Leidenschaft eine Rolle. Zuallererst ist es für Jon Elster aber der Verstand, der uns dazu bringt, etwas auf Kosten einer anderen Aufgabe zu tun.
John Perry
(*1943)
„Um Helden der Arbeit zu sein“
Notorische Liegenlasser sind selten untätig, glaubt dagegen der amerikanische Philosoph John Perry. Denn wir schieben bestimmte Dinge nur auf, um stattdessen etwas anderes zu tun: Die Steuererklärung kann warten, dafür mähen wir den Rasen. Dieses „Aufschieben mit Plan“ ist Perry zufolge eine verblüffende Strategie, die uns zu tüchtigen Zeitgenossen macht. Der Aufschieber lässt sich nämlich „zum fristgerechten Abwickeln schwieriger und wichtiger Aufgaben motivieren, solange diese Aufgaben das Mittel zum Zweck sind, einer noch wichtigeren Aufgabe aus dem Weg zu gehen (Einfach liegen lassen, 2012). Was auf den ersten Blick paradox erscheint, ist tatsächlich ein wirksamer Modus Operandi, um alle wichtigen Dinge zu erledigen. Früher oder später, versteht sich. •
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