Was riskieren wir?
Mit Blick auf ihre Forschung und Erfahrung befürchten Gerald Knaus und Gerd Koenen einen Eroberungswillen Putins über die Ukraine hinaus, dem es entschlossen entgegenzutreten gelte. Julian Nida-Rümelin betont als Risikoforscher die Gefahr einer Ausweitung des Krieges unter Einsatz von Nuklearwaffen. Ein Gespräch über Fragen, die unsere Zukunft entscheiden.
Philosophie Magazin: Die Deutschen, so besagt der Ausdruck german angst, sind neurotisch, befürchten immer das Allerschrecklichste. Deshalb seien wir auch bei Kriegseinsätzen zurückhaltend. Für den Philosophen Martin Heidegger ist die Angst etwas ganz anderes: nämlich eine Grundbefindlichkeit, die uns den Weg zur Eigentlichkeit weist und aus dem Konformismus befreit. Halten Sie die Angst in der Situation, in der wir uns seit dem 24. Februar 2022 befinden, für einen guten Ratgeber?
Gerd Koenen: In der Psychoanalyse unterscheidet man neurotische Angst und Realangst. Heidegger ist ein interessantes Beispiel dafür, wie neurotische Ängste die Wahrnehmung deformieren können und man in der Sorge um seine „Eigentlichkeit“ beim Irrealsten und Brutalsten anlangt, hier im Umfeld des Nationalsozialismus. Hitler spielte mit dem hysterischen Grundgefühl vieler Deutscher, die sich durch das Versailler Diktat überfremdet, in ihrer „Eigentlichkeit“ ausgelöscht sahen. Er sprach zum Beispiel von einem „Syphilisfrieden“, was die Ansteckung durch einen fremden, zersetzenden Geist suggerierte, der ausgemerzt werden müsse. In ganz ähnlicher Weise suggeriert Putin heute der russischen Gesellschaft, dass der Zusammenbruch der „im Felde unbesiegten“ Sowjetunion im Jahr 1991 durch fremde, korrumpierende, westliche Kräfte und Einflüsse herbeigeführt worden sei, die es auszumerzen gelte. Einige, darunter ich, haben früh schon von einem „russischen Versailles-Komplex“ gesprochen. Um diese „geopolitische Katastrophe“ rückgängig zu machen, will Putin nun, nachdem er im Innern aufgeräumt hat, die abgesprengten Volks- und Landesteile wieder „heim ins Reich“ führen, neben Weißrussland vor allem die Ukraine, und danach … wer weiß.
Ungewiss, wie weit er gehen wird …?
Koenen: Die Ukrainer, die sich dieser Invasion entgegenstellen, wissen, worum es geht. Wenn sie sich unterwerfen, droht ihnen nicht nur die Vernichtung ihres Staates, ihrer demokratischen Institutionen und Freiheiten. Sondern man will sie „entukrainisieren“, was in perverser Verkehrung mit „Entnazifizierung“ gleichgesetzt wird. Pervers, weil dieses Denken aus deutsch-völkischen Theorien bekannt ist, wie sie im „Generalgouvernement“, in Polen nach 1939 und in der Ukraine nach 1941, umgesetzt wurden. Die Nazis nannten das: „Umvolkung“ – per „Eindeutschung“, Kinderraub, Ausrottung der Eliten und Helotisierung der Masse. Der Kampf der Ukrainer gegen den völkischen Vernichtungskrieg Putins ist ein Beispiel hellsichtiger Realangst. Davon bräuchten wir selbst mehr!
Julian Nida-Rümelin: Im angelsächsischen Raum gibt es neben der german angst noch einen anderen interessanten
Begriff: precautionary principle. Das ist eine Übersetzung aus dem Deutschen und meint: Vorsorgeprinzip. Die Risikopraxis in den USA ist noch weit von diesem Prinzip entfernt, findet aber langsam dort Eingang. Mit Blick auf den Umgang mit digitalen Medien hat man dort früher gesagt: Die Deutschen sind so überängstlich! Was wollen die mit einer Datenschutzgrundverordnung? Inzwischen sieht man: Aha. Ein bisschen vorsichtiger zu sein, ist gar nicht so schlecht. Und um auf Krieg und Frieden zu sprechen zu kommen: Die US-amerikanischen Militärstrategen haben ja den schönen Ausdruck theatre nuclear forces entwickelt. Was ist das? Das sind Nuklearwaffen, die so zum Einsatz gebracht werden, dass sie nicht US-amerikanisches Territorium erreichen, sondern auf das europäische theatre beschränkt bleiben. Und in der Zeit des Kalten Krieges ging man davon aus, dass ein Krieg sehr wahrscheinlich am Anfang auf deutschem Boden ausgetragen worden wäre. Das heißt: Die besondere Sorgfalt der Deutschen, was die atomare Bedrohung angeht, hat durchaus seine geopolitischen Hintergründe.
Gerald Knaus: Auch Gangster setzen Angst ein, um ihre Ziele zu erreichen. Die entscheidende Frage lautet dann: Wie reagieren die, die das primäre Ziel solcher Aktionen und tatsächlich mit einer realen Gefahr konfrontiert sind? Ich denke da an die 1,7 Millionen Ukrainer, vor allem Ukrainerinnen, die von Februar bis Ende Mai aus Polen wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind, obwohl der Krieg nicht vorbei ist und ihre Städte, auch Kiew, weiter bombardiert werden. Ich denke an russische Dissidenten wie Wladimir Kara-Mursa, der eben erst in Westeuropa war, vor Putin gewarnt hat und dann nach Moskau zurückgereist ist, obwohl er schon zweimal Opfer eines Giftgasattentats wurde. Er wurde wieder verhaftet und angeklagt. Er wusste, was ihn erwartet. Das sind gute Gründe, Angst zu haben. Aber Angst hat ihn nicht gelähmt, darf auch uns nicht lähmen. Ich denke auch an Freunde in Moldau, der ärmsten Republik Europas wenige Kilometer von Odessa entfernt, wo binnen weniger Monate trotz der ständigen Gefahr eines Ausgreifens des Krieges pro Kopf die größte Zahl von Flüchtlingen aufgenommen wurde. Und natürlich denke ich an die Balten und Polen. Sehr viele Menschen in Europa haben heute berechtigterweise Angst. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier nicht eine rein deutsche Debatte über Angst führen.
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