Wiederkehr des Archaischen
Jüngst wurde der YouTuber Rainer Winkler alias „Drachenlord“ zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er handgreiflich wurde gegenüber Hatern, die ihn in Scharen tyrannisieren. Wie lässt sich das Unfassbare fassen?
Rainer Winkler stellt Videos online, in denen er zu Heavy Metal headbangt, am Computer spielt oder aus seinem Alltag erzählt. Er ist übergewichtig und laut gerichtlichem Gutachten unterdurchschnittlich intelligent. Um ihn hat sich eine Community von über 100 000 Menschen gebildet, die sich über ihn lustig machen – in Kommentaren, Videos und Memes, aber auch durch Provokationen direkt vor Winklers Haus. Täglich fahren Haider (fränkisch für „Hater“) in das 42-Seelen-Dorf Altschauerberg, rufen Beleidigungen, werfen Böller oder Stinkbomben. Auch die Nachbarschaft bleibt nicht verschont. Das Ganze nennen die Haider das „Drachengame“. In seiner verschärften Version enthält dieses Spiel auch, einen Feuerwehrgroßeinsatz in Winklers Namen auszulösen, und die Androhung, das Grab seines Vaters auszuheben. Das Ziel der Haider reicht von „Spaß haben“ bis zu der Absicht, Winkler in den Suizid zu treiben oder (wie inzwischen erfolgt) ins Gefängnis zu bringen.
Die ganze Dynamik erinnert an die Funktionsweise archaischer Gesellschaften, wie sie der französische Anthropologe René Girard beschrieben hat. In diesen Gemeinschaften entstehe zunächst ein massives Gewaltpotenzial aufgrund des „mimetischen Begehrens“, das aus dem beständigen Vergleich mit anderen resultiert: Rivalität und Neid greifen um sich. Die Menschen richten ihr Verlangen imitatorisch nach dem, was andere für begehrenswert halten.
Aufklärung schlägt in Mythos um
Ein Phänomen, das im Zeitalter des Kapitalismus und des Internets zweifellos verschärft wiederkehrt. Um das aus der Rivalität resultierende Gewaltpotenzial zu kanalisieren, wird in archaischen Gesellschaften in einem ebenfalls mimetischen Prozess ein Sündenbock ausfindig gemacht. Als Opfer werden bevorzugt angreifbare Menschen gewählt – Fremde, Kranke oder Andersaussehende. Um den gesellschaftlichen Ausschluss beziehungsweise die Tötung des Opfers zu rechtfertigen, wird schließlich seine moralische Schuld behauptet. Auch im Fall Winklers wird gerne mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten erklärt, er sei Holocaust-Leugner und Sodomit.
Auffällig ist: Unter den Haidern finden sich etliche Personen, die offenbar Abitur haben und sich gut artikulieren können. Doch ihre Schulbildung ist völlig losgelöst von jeglicher Herzensbildung. So beschreibt ein junger Mann das Mobbing als „chemischen Aufbau“, dessen Ausgang er gespannt beobachte. An den Haidern zeigt sich somit, dass das Archaische und kalte Rationalität zwei Seiten derselben Medaille sind, wie bereits Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung darlegten. Wer „rational“ in diesem Sinne ist, hat sich im Griff und fügt sich in die Gesellschaft ein.
Zugleich erzeugt die Triebunterdrückung Frust, der auf den Drachenlord projiziert wird. Rainer Winkler wird verachtet, weil er sich gehen lasse – „dick“ und „dumm“ sei – und keine Lohnarbeit habe. Zugleich können die Haider sich in diesem Kontext eine Lockerung ihrer eigenen Selbstkontrolle und aggressive Triebabfuhr erlauben. Kurz gesagt: Sie können ihre niedersten, unzivilisierten Instinkte ausleben, während sie zugleich das vermeintlich Niedere und Unzivilisierte von Rainer Winkler bekämpfen. So schlägt Aufklärung in Mythos zurück. •