Wo beginnt Rassismus, Herr El-Mafaalani?
Die meisten Menschen wollen keine Rassisten sein. Aber was, wenn eine Handlung trotzdem als rassistisch wahrgenommen wird? Ein Gespräch
mit dem Soziologen Aladin El-Mafaalani über eine umstrittene Grenze.
Philosophie Magazin: Herr El-Mafaalani, leben wir in einem rassistischen Land?
Aladin El-Mafaalani: Wir leben in einem Land, in dem Rassismus eine große Rolle gespielt hat. In der Vergangenheit war Rassismus eines der zentralsten Ordnungsprinzipien, das heute noch wirksam ist.
Dennoch sagen Sie in Ihrem Buch: Dass wir heute so viel über Rassismus reden, verweist darauf, wie fortschrittlich die Gesellschaft ist.
Ja. Das ist ein zentraler Punkt, der mich inzwischen seit zehn Jahren beschäftigt. Rassismus taucht heute als Thema ja in der Tat überall auf. Auf den Bestsellerlisten, in Talkshows, in Filmen. Das war noch vor ein paar Jahren ganz anders. Das zeigt zweierlei. Einmal, dass wir noch sehr viel strukturellen Rassismus in der Gesellschaft haben. Aber zum anderen, dass er im Auflösen begriffen ist. Viele Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, sind viel sensibilisierter für diese Strukturen als noch vor einigen Jahren. Und Menschen, die von Rassismus betroffen sind oder sein könnten, befinden sich heute in Positionen, in denen sie die Probleme thematisieren können. Das war vor 30 Jahren undenkbar und auch vor zehn Jahren noch sehr selten. Jetzt findet diese Thematisierung statt. Und das führt eben auch zu hitzigen Diskussionen.
Sie sprechen von einem „Diskriminierungsparadox“.
Ja, ich lehne mich hier an den französischen Philosophen Alexis de Tocqueville an…
…der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel Zeit in den USA verbracht und das Buch Über die Demokratie in Amerika geschrieben hat?
Genau der. Tocqueville hat festgestellt, dass Menschen erst dann, wenn sie teilhaben – weil Benachteiligungen in Teilen abnehmen –, in der Lage sind, Probleme zu thematisieren und sich so zu befreien. Das heißt, zu dem Zeitpunkt, an dem Menschen sich zu Wort melden und Diskriminierung thematisieren, sind sie gerade deshalb in der Lage dazu, weil die Diskriminierung bereits abgenommen hat. Erst dann hört man ihnen zu. Das Paradoxale daran ist: Die Diskussion wird immer intensiver, je geringer die Probleme werden. Und das ist im Übrigen nicht nur bei Rassismus so. Große Gemeinschaften haben die paradoxe Tendenz, dass sie über das kleiner werdende Problem immer intensiver sprechen. Denken Sie an soziale Sicherheit. Eine Gesellschaft wie die indische, in der der Staat überhaupt keine Sicherheit schafft, diskutiert nie über Unsicherheit. In Deutschland hingegen, wo wir alles daransetzen, das Leben noch sicherer zu machen, als es ohnehin schon ist, reden wir so, als sei alles unsicher. Das ist ganz typisch. Das Paradox kann man natürlich auch auf Sexismus übertragen.
Also: Wir reden ständig über Sexismus, aber faktisch gibt es so wenig Sexismus wie noch nie?
Ja, genau. Auf Deutschland bezogen kann man das sicher so sagen. Wäre doch auch schlimm, wenn über hundert Jahre Frauenbewegung nichts erreicht hätten. „Weniger“ heißt dabei nicht unbedingt „wenig“. Weniger ist eine relationale Dimension, die man objektiv feststellen kann. Wenig ist hingegen eine Bewertung, die auch normativ ist.
Aber was ist aus dem Paradox nun zu schlussfolgern? Haben die recht, die sagen: Na also. Alles halb so schlimm. Stellt euch mal nicht so an. Oder gilt das Umgekehrte: Müssen wir auch die feinsten Strukturprobleme noch durcharbeiten, damit wir wirklich gleichberechtigt werden?
Ich würde auf diese Frage gerne mit einem Bild antworten. Stellen Sie sich Deutschland als einen Raum vor. Wenn jemand in den Raum reinkommt, ist das Einwanderung. Wenn jemand rausgeht, Auswanderung. In dem Raum gibt es hierarchische Konstellationen: Wer auf dem Boden sitzt oder am Rand oder in der zweiten oder dritten Reihe, wird eher marginalisiert, wirkliche Teilhabe ist noch nicht realisiert. Aber wer am Tisch sitzt, kann mitdiskutieren. Dem wird zugehört. Und dann gibt es auf dem Tisch einen Kuchen, und jeder möchte ein Stück davon, und jeder möchte einen schönen Platz am Tisch. In den letzten Jahren haben sich nun immer mehr Menschen vom Boden an den Tisch gesetzt. Der Tisch ist jünger geworden, er ist weiblicher geworden, er ist diverser geworden. Migranten, besonders der zweiten und dritten Generation, haben sich an den Tisch gesetzt.
Das ist ja erst mal sehr positiv.
Das ist die offene Gesellschaft, wenn jetzt aber alle diese Menschen ein schönes Stück vom Kuchen wollen, dann wird es nicht gemütlich, sondern im Gegenteil: Das ist mit Streit verbunden. Einige fordern, das Rezept des Kuchens zu ändern. Oder die Tischordnung. Oder die Esskultur. Hier geht es dann nicht mehr um Verteilungsfragen, sondern um kulturelle und identifikatorische Fragen, zum Beispiel: Gehört der Islam zu Deutschland? Eine solche Frage stellt man erst, wenn Muslime mit am Tisch sitzen. Und wenn man nur die heutige Tischszene betrachtet, also den Streit, dann kann man leicht den Eindruck gewinnen, wir hätten Rückschritte gemacht. Dabei handelt es sich um eine große Erfolgsgeschichte der offenen Gesellschaft.
Woran erkennt man, dass eine Handlung rassistisch ist?
Wenn man auf der Grundlage biologischer oder kultureller Unterscheidung Menschen kategorisiert, also in eine Gruppe packt, diese Gruppe abwertet und dann die Menschen, die zu ihr gehören, ausgrenzt. Es geht also um diesen Dreiklang: Kategorisieren, Abwerten, Ausgrenzen. Wenn alle drei Schritte vorliegen, handelt es sich um lupenreinen Rassismus. Es kann aber auch nur ein Teil davon stattfinden. Es kann etwa sein, dass ich gar nicht kategorisieren wollte, aber trotzdem jemanden ausgrenze. Es kann auch sein, dass ich nur kategorisiere – und vielleicht aufgrund einer inneren moralischen Bremse nicht entsprechend handle, also ausgrenze.
Ist unbewusster Rassismus weniger schlimm?
Wenn ich absichtlich jemandem wehtue, hat das eine andere Qualität, als wenn ich jemandem unabsichtlich wehtue. Aber es tut in beiden Fällen weh. Und das muss man erst mal zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen ein Beispiel sagen für einen Rassismus, der gar nicht intendiert war, aber eben trotzdem den genannten Dreiklang aus Kategorisieren, Abwerten und Ausgrenzen erfüllt.
Gerne.
In der Stadt Burg hat eine Schule alle Kinder, die einen ausländischen Namen haben, zusammen in eine Klasse gepackt. Die Grundannahme war, dass alle diese Kinder bestimmt schlechter Deutsch sprechen. Das ist lupenreine rassistische Diskriminierung, bestehend aus den drei Merkmalen Kategorisierung, Abwertung, Ausgrenzung. Eine kurze Recherche hat ergeben: Die Hälfte dieser Kinder spricht akzentfrei Deutsch. Die Schule aber dachte: Ein arabischstämmiger Klassenlehrer kann die besser betreuen. Nicht einmal ein Drittel der Kinder spricht Arabisch. In so einem Fall interessiert mich gar nicht, ob die Schule oder der Schulleiter bewusst rassistisch ist. Es interessiert mich nicht die Intention. Was mich interessiert, ist die Tatsache, dass wir es hier mit einer rassistischen Handlung zu tun haben. Und eine solche Handlung tut den Betroffenen weh. Korrigiert wurde diese Maßnahme nur, weil sehr aggressiv und offensiv dagegen protestiert wurde.
Trotzdem sagten Sie eben, dass es eine andere Qualität habe, ob jemand bewusst rassistisch agiert oder nicht.
Ja. Bevor ich irgendjemanden einen Rassisten nenne, müsste ich mir sicher sein, dass es intendiert rassistisch war. Ein Rassist will rassistisch sein. Jemand, der nicht rassistisch sein möchte, aber trotzdem rassistisch handelt, tut dies aus Uninformiertheit, Unbedachtheit, Ignoranz, aus mangelnder Empathie oder was auch immer.
In konkreten Fällen ist es allerdings oft gar nicht so klar, ob eine rassistische Handlung nun vorliegt oder nicht. Stellen wir uns vor, ich lerne einen Mann bei einem großen Abendessen bei Freunden kennen, er hat eine dunklere Hautfarbe als ich. Wir kommen ins Gespräch und ich frage ihn irgendwann, wo er eigentlich herkommt. Sicher bin ich gemäß Ihrer Unterscheidung keine Rassistin, wenn ich so frage. Aber vollziehe ich trotzdem eine rassistische Handlung?
Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas ausholen. Meine Mutter ist in den 1970er-Jahren aus Syrien in ein Deutschland eingewandert, in dem Rassismus – intendierter Rassismus – der Mainstream war. Das war eine Gesellschaft, die damals Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchte, und zwar dringend. Die Deutschen haben diese Arbeitskräfte ins Land gelassen, aber direkt klargestellt: Arbeiten ja, dazugehören nein. Warum erzähle ich das? Weil Ihre Frage: „Wo kommen Sie her?“ nicht per se rassistisch ist. Aber sie wird gestellt in einem Land, das eine lange rassistische Tradition hat. Mit dieser Tradition gehen Machtgefüge einher: Hier die Deutsche, die dazugehört. Dort der Schwarze, der nicht dazugehört.
Und deshalb wird die Frage als problematisch wahrgenommen, auch wenn sie ganz anders gemeint ist?
Sie wird ja gar nicht von allen als problematisch wahrgenommen. Wenn Sie meine Mutter fragen: „Wo kommen Sie her?“, dann freut sie sich richtig und wird Ihnen drei Stunden erzählen, wie toll Syrien ist beziehungsweise war. Das Problem ist für sie eher, dass sie so selten gefragt wird. Wenn man mich fragt, komme ich Ihnen entgegen, will kein Spielverderber sein, sage sogar manchmal sehr früh, dass meine Eltern aus Syrien kommen, obwohl ich selbst im Ruhrgebiet geboren bin. Aber wenn Sie jetzt meine Tochter oder meine Nichten fragen, und die merken, dass Sie einfach nur aufgrund äußerer Merkmale wissen wollen, woher sie kommen, und meinen eigentlich, woher die Großeltern kommen, dann könnte das Gespräch ungemütlich werden.
Die Frage „Wo kommen Sie her?“ wird also je nach Generation anders gehört.
Ja. Wenn Sie meine Mutter fragen: „Wo kommen Sie her?“, hat die Frage für sie einen klaren Sinn, denn sie kommt wirklich aus einem anderen Land. Wenn Sie mich fragen, ist das für mich noch einigermaßen sinnhaft, weil ich in einer Familie aufgewachsen bin, die sehr syrisch war. Wenn Sie aber die dritte Generation fragen, dann versteht die das schon nicht mehr und wird auch sauer, weil mit der Tatsache, dass Sie als weiße Person fragen, ein Machtgefälle verbunden ist. Um diese Kontextualisierungen geht es hier. Und nicht darum, abstrakt festzustellen, welche Fragen gestellt werden dürfen und welche nicht.
Ich würde gerne auf das erste Merkmal einer rassistischen Handlung, die Kategorisierung, näher eingehen. Neulich in der U-Bahn saß einer Mutter und ihrem Kind ein Mann mit tiefschwarzer Hautfarbe gegenüber. Das Kind hatte so eine Hautfarbe offenbar noch nie gesehen und sagte leise und ehrfürchtig zu seiner Mama: „Der Mann ist ja ganz schwarz.“ Ist das einfach nur harmloses Erstaunen darüber, dass jemand anders ist als man selbst? Oder ist so ein Erstaunen nie harmlos?
Diese Differenz zu sehen, ist überhaupt nicht das Problem. Die Differenz sehen wir immer. Wir denken in Kategorien. Und wenn Sie in Angola zu Besuch wären, würden ganz viele Kinder Ihre blonden Haare anfassen – Erwachsene übrigens nicht. Dass das passiert, ist ganz normal. Zwei Dinge haben uns als Spezies weitergebracht: Das eine ist Vorsicht. Sobald wir etwas sehen, was wir nicht kennen, sind wir vorsichtig. Das ist überlebenswichtig. Wer das erste Mal einen Löwen gesehen hat und nicht vorsichtig war, konnte sich nicht weiter fortpflanzen. Und das Zweite ist: Sobald ich mich dann sicher fühle, entsteht Neugierde. Dieses zweite Moment, die Neugierde, wird durch Rassismus unterdrückt. Der Rassismus bietet ja immer schon die Erklärung, er gibt Antworten, bevor Fragen gestellt werden können. Genau aus diesem Grund haben wir uns so lange mit vielem gar nicht beschäftigt.
Wobei sich hier für mich direkt die Frage anschließt, ob wir in unserer sehr großen Angst, rassistisch zu handeln, nicht auch Neugierde unterdrücken. Viele stellen die interessierte Frage „Wo kommst du her?“ ja eben nicht mehr, weil niemand als Rassist dastehen will.
Das ist in der Tat ein Problem, das auch damit zu tun hat, dass sich die Menschen, die rassistische Erfahrungen gemacht haben, ihrerseits manchmal ausschließen und in einen Kokon zurückziehen. Ich verstehe das auf einer individuellen Ebene, versuche aber gleichzeitig auch klar zu sagen, dass das – wenn sich alle so verhalten – nicht konstruktiv ist. Man kann eben nicht erst dann ins Gespräch kommen, wenn schon alle Probleme gelöst sind, vielmehr muss man kommunizieren und auch streiten, um die Probleme zu lösen. Gleichzeitig muss man auch wahrnehmen, wenn Menschen sich von einer Äußerung verletzt fühlen. Offene Gesellschaften funktionieren am besten, wenn Menschen vorsichtig sind. Denn: Wenn mehr Menschen frei sind, dann endet für alle die eigene Freiheit an viel mehr Stellen, als das früher der Fall war, als Freiheiten das Privileg einer Minderheit waren.
Wie ist das mit dem N-Wort? Viele fühlen sich verletzt, wenn es auf einer Theaterbühne gesagt oder als Zitat genannt wird. Also das Wort besser komplett streichen und immer vermeiden?
Das wird nicht gehen, aber es kommt natürlich auch hier auf den Kontext an. Stellen Sie sich vor, jemand dreht einen Film über das 18. Jahrhundert, und der Sklaventreiber sagt die ganze Zeit „N-Wort“ oder eine nicht diskriminierende Bezeichnung. Ich bin aber der Meinung, die Nennung des Wortes sollte in Texten immer kommentiert werden. In meinem eigenen Buch habe ich mich dazu entschieden, es in Zitaten in den Endnoten auszuschreiben. Wenn ich Kant zitiere, dann sollte man das Zitat unmaskiert lesen können. Schon allein deshalb, weil es wehtut und man so erst die Gewalt versteht, die in dem Begriff steckt. Es tut auch mir weh, wenn ich das lese. In Kinderliteratur ist das etwas anderes. Es ist widersprüchlich, Kindern das Wort erst vorzulesen und dann hinterher zu sagen, dass das ja eigentlich nicht okay ist und sie es nicht benutzen dürfen, weil es sich um einen rassistischen Begriff handelt.
Kommen wir noch einmal zur allgemeineren Ebene: Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, rassistische Strukturen müssten sich rauswachsen. Andererseits aber sind diese Strukturen, so sagen Sie, „überall“. Also muss sich doch ganz grundsätzlich das Kuchenrezept ändern?
Erst einmal gilt festzuhalten, dass diese Entwicklung, die wir gerade erleben, Verlierer produzieren wird. Ich meine die Menschen, die vorher überprivilegiert waren und jetzt ein paar ihrer Privilegien abgeben müssen. In der Aktivistenszene hat sich der Satz etabliert: „Für alte weiße Männer fühlt sich Fairness wie Verlieren an.“ Das ist hart formuliert, aber Aktivisten dürfen das.
Und was ist mit dem Rezept?
Was für mich feststeht, ist, dass wir nicht verschiedene Rezepte anwenden können, wenn am Ende ein Kuchen dabei rauskommen soll. Das heißt: Wir müssen uns über das Rezept streiten. Im Rezept stecken symbolische Anerkennung, Zugehörigkeit und Identität – alles Dimensionen, die in der Sprache liegen: Gendern und diskriminierende Bezeichnungen stehen in jüngster Zeit nicht ohne Grund im Zentrum kontroverser Debatten. Das ist anstrengend und manchmal auch wirklich nervig, und es wird noch sehr lange so weitergehen. Ungleichheitsverhältnisse, die Jahrhunderte wirksam waren, kriegt man nicht per Handstreich aufgelöst.
Was kann man denn konkret machen, zum Beispiel in der Schule, damit rassistische Strukturen verschwinden?
Ich nenne in meinem Buch vier Punkte, die es für Lehrkräfte zu beachten gilt. Der erste ist: Nicht selbst rassistisch handeln. Eine Selbstverständlichkeit. Aber, wie wir alle wissen und am Beispiel der Stadt Burg gesehen haben, oft gar nicht so einfach. Der zweite Punkt ist: Lehrkräfte müssen Rassismus aktiv suchen. Die Schulbuchforschung hat bisher kein einziges Schulbuch gefunden, in dem nicht ziemlich offensichtlich rassistische Stereotype identifiziert werden konnten. Wenn dann hinterher die Lehrkräfte gefragt wurden, ob ihnen das nicht aufgefallen sei, antworteten einige: „Ja, doch. Fanden wir komisch, aber ist ja zugelassen.“ Das ist kein aktives Suchen, das ist unprofessionelles Handeln. Dritter Punkt: Die Kinder und Jugendlichen, die von Rassismus betroffen sein könnten, ermächtigen, mit bestimmten Erfahrungen souverän und konstruktiv umzugehen. Also sie davor bewahren, das Ereignis zu verdrängen, überzureagieren oder zu resignieren. Punkt vier: Im gesamten professionellen Umfeld mit dafür sorgen, dass rassistische Strukturen abnehmen. Also gegenüber dem Kollegium, gegenüber der Schulleitung und auch gegenüber dem Schulministerium.
Gerade Punkt vier kann aber natürlich auch zu einem sehr beklemmenden Klima führen. Siehe die Debatte um Cancel Culture, in der es um denunziatorische, skandalisierende, ausgrenzende Tendenzen geht: Menschen werden zur Kündigung genötigt, weil sie sich angeblich diskriminierend geäußert haben.
Ja, es gibt diese Übertreibungen und dass einzelne Äußerungen skandalisiert werden, aber das führt eher selten dazu, dass wirklich gecancelt wird. So wie es inzwischen trendy ist, rassismuskritisch zu sein, ist es auch trendy zu sagen: „Ich werde gecancelt.“ Insgesamt fehlt uns in der ganzen Debatte die Gelassenheit. Alle sind hochemotionalisiert, und so wird der Streit dann auch erhitzt geführt. Wären wir gelassener, würden die Erkenntnisse sich besser festsetzen. In der kreischenden Medienwelt hat man hingegen oft den Eindruck, dass die Dinge nur angetippt werden.
Eine letzte Frage noch zu Punkt drei, zum Empowerment. Das ist ja eine durchaus umstrittene Haltung zu sagen: Nicht nur die Welt muss sich ändern, sondern auch ihr selbst! Werdet widerständiger! Sehen Sie die Gefahr, dass man die Verantwortung zu sehr auf die Individuen abwälzt?
Nein, das eine schließt das andere ja nicht aus. Aber was wichtig ist: Wir müssen die Menschen präventiv stärken. Und nicht erst dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und man nur noch damit beschäftigt ist, irgendwie mit seinem Schmerz klarzukommen. Stattdessen gilt es, schon in der ersten Klasse anzufangen und zu üben: Was mache ich, wenn X oder Y passiert? Macht es Sinn, lauter zu werden – oder gerade nicht? Es geht darum, Menschen dazu zu befähigen, resilienter zu sein. Wir brauchen den Zugang über die Strukturen und die Institutionen, aber auch den Zugang über die einzelnen Menschen. So kommen wir voran. •
Der Dialog fand statt auf der phil.cologne 2021.
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2020 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sein jüngstes Buch „Wozu Rassismus?“ ist 2021 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
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