Wo das Rettende wächst
Der Klimawandel bedroht uns alle, dennoch fällt es uns schwer, langfristig zu denken und zu handeln. Warum ist das so? Die Psychologie gibt ernüchternde Antworten. Ein Essay von Philipp Hübl.
Die Menschheit steht im Augenblick vor zwei existenziellen Bedrohungen. Die kleinere, die Corona-Pandemie, hat inzwischen fast eine Million Opfer gefordert. Sie wird vermutlich bald durch einen Impfstoff bezwungen sein. Die zweite Bedrohung wiegt schwerer und dauert an: Klimawandel und Umweltzerstörung. Allein in Europa führen Umweltfaktoren wie Luftverschmutzung jährlich zu mehr als 1,5 Millionen Todesopfern. Ganz zu schweigen von der Südhalbkugel, wo nach Schätzungen der WHO jährlich über zehn Millionen Menschen an den Folgen verschlechterter Klimabedingungen wie Hitze, Wasserverschmutzung und Krankheiten sterben.
Einige sehen in der Bekämpfung der Pandemie einen Testlauf für den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel. Auf den ersten Blick fallen auch Parallelen ins Auge: Wie der Klimawandel kennt eine Pandemie keine Staatsgrenzen. Sie fordert viele Opfer, vor allem unter den Schwachen und Armen. Weil das Virus unsichtbar ist, bleibt die Bedrohung zunächst abstrakt. Der Schaden durch individuelles Fehlverhalten ist klein, aber die globalen Folgen sind verheerend. Nur internationaler wissenschaftlicher Austausch und Solidarität zwischen den Staaten können das Schlimmste verhindern.
Alles wie beim Klimawandel, so scheint es. Doch die Unterschiede sind entscheidend: Beim Klimawandel treten die Folgen nicht nach wenigen Tagen, sondern erst Jahrzehnte später auf und die Verursacher sind nicht die Leidtragenden. Während im Fall von Corona Firmen einen ökonomischen Anreiz haben, Impfstoffe zu entwickeln, sieht es bei der CO2-Reduktion anders aus. Weltweit wollen Unternehmen Umweltschäden und andere „Kosten“ möglichst auf die Gemeinschaft abwälzen und die Gewinne behalten.
Weit mehr als 90 Prozent aller Klimaforscher sind sich einig, dass der rasante Temperaturanstieg menschengemacht ist, das zeigen inzwischen sieben große Vergleichsstudien. Dennoch spielen immer noch viele, sogar gebildete Menschen die Bedrohung herunter oder wollen die Tatsachen nicht wahrhaben. Und selbst die Staaten, die die Forschung anerkennen, verharrten bisher in einer Schockstarre. Obwohl sich 191 Staaten im Kyoto-Protokoll von 2015 verpflichtet haben, die Erderwärmung zu stoppen, ist so gut wie nichts passiert. Deutschland zum Beispiel bezieht noch immer 80 Prozent seiner Energie aus fossilen Brennstoffen.
Das Wurzelholz des Denkens
Warum denken und handeln wir nicht langfristig, gerade wenn es ums Klima geht? Das hat verschiedene Gründe: Einer ist sicherlich, dass es uns schwerfällt, abstrakt zu denken. Willensschwäche spielt auch eine Rolle. Ein bisher unterschätzter Faktor ist allerdings die Ideologie: Weltweit leugnen vor allem die Rechtspopulisten und die Autoritären den menschengemachten Klimawandel, von den US-Republikanern bis hin zur AfD, weil sie allein im Thema schon die Signatur ihrer Gegner, der progressiven Eliten sehen. Das hat oft mit Trotz zu tun und geht fast immer auf Kosten der Vernunft.
Kant, der Philosoph der Aufklärung, hat den Menschen schon vor über 200 Jahren geraten, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, doch leider nicht ausgeführt, wie das genau funktioniert. Rationales Denken fällt uns schwer, so Kant, weil wir aus „krummem Holz“ gemacht sind, angetrieben von „Neigungen“, also Emotionen. Genau hier kommt die moderne Psychologie ins Spiel, die erklärt, warum Menschen zu mentalen Kurzschlüssen und Vorurteilen neigen. Der US-Psychologe und Ökonomie-Nobelpreisträger Daniel Kahneman fasst die Forschung so zusammen: Menschen verwenden zwei Denkstile, einen schnellen und einen langsamen. Schnelles Denken ist intuitiv, anstrengungslos, oft emotional, und es macht uns für Denkfehler anfällig. Langsames Denken hingegen ist kritisch und schützt uns ganz gut vor Irrtümern: etwa vor statistischen Fehlschlüssen oder selektiver Wahrnehmung. Langsames Denken ist allerdings nicht der Default-Modus unseres Hirns. Es ist anstrengend, und wir neigen zur mentalen Faulheit.
Sein kanadischer Kollege Keith Stanovich schlägt deshalb vor, neben dem Intelligenzquotienten auch den „Rationalitätsquotienten“ zu untersuchen. Wer Informationen rational verarbeiten will, muss Stanovich zufolge zwei Fähigkeiten einsetzen: aktive Aufmerksamkeit (die „fluide Vernunft“) und logisch-mathematisches Wissen (die „kristalline Vernunft“). Wer aufmerksam ist, fällt seltener auf das „Framing“ der Werbung und Politik herein, etwa wenn von „humanitärer Intervention“ die Rede ist statt von „Krieg“. Doch um in der Corona-Debatte kompetent über R-Zahlen und exponentielles Wachstum zu urteilen, ist mehr erforderlich: Grundkenntnisse in Statistik zum Beispiel. Rational ist, so Stanovich, wer konzentriert und gleichzeitig wissenschaftlich denkt. Doch gerade wenn es abstrakt wird, wenn wir über Zeit und Verursachung nachdenken, fällt uns das schwer.
Kausales Denken und kognitive Dissonanzen
Wir alle haben eine implizite Kausaltheorie, eine Annahme darüber, warum etwas in der Welt passiert. Wir wissen: Wenn die Suppe zu heiß ist, verbrennen wir uns die Zunge. Und wenn wir auf den Klingelknopf drücken, dann verursachen wir ein Geräusch. Solche Annahmen über Verursachung sind so tief in unser Denken und Handeln eingelassen, dass Kant das Kausalprinzip („Jedes Ereignis hat eine Ursache“) als ein Grundprinzip der Vernunft ansah. Im Alltag hantieren wir meist mit mittelgroßen Objekten: mit Suppenschüsseln und Klingelknöpfen. Sobald die Ursachen räumlich und zeitlich weit entfernt oder unsichtbar sind, versagt unsere vorwissenschaftliche Intuition. Daher glauben Menschen in vielen Naturreligionen an Hexen und die Geister ihrer Ahnen, mit denen sie ihr alltägliches Glück und Leid erklären: wenn das Kind erkrankt oder die Ernte ausfällt.
Dieses Denken erinnert stark an das von Verschwörungstheoretikern, die auch eine kleine Gruppe von mächtigen Strippenziehern für die Übel der Welt verantwortlich machen, etwa die Zionisten oder die Freimaurer. Statt die kausalen Faktoren, also die Ereignisse und die Dispositionen der Materie, genauer in den Blick zu nehmen, fantasieren sie lieber personale Verursacher herbei – ganz wie die antiken Griechen, bei denen Zeus die Blitze geschleudert hat. Bei Leugnern des Klimawandels ist das ähnlich: Weil ihr eigener Beitrag zur Erderwärmung unsichtbar ist, bestreiten sie einen Einfluss. Und weil ihnen die Klimaforschung darin widerspricht, halten sie die Wissenschaft für eine Verschwörung der Eliten. Doch selbst Menschen, die wissenschaftlich geschult sind, fällt langfristiges Denken schwer. Im Gegensatz zu anderen Tieren können sich Menschen zwar ein Bild von der Zukunft machen, sind dabei aber extrem kurzsichtig. Wir fragen uns vielleicht „Was mache ich im nächsten Urlaub“, aber selten „Was mache ich in 30 Jahren?“
Selbst die wissenschaftliche Zukunftsplanung ist erst vor gut einem halben Jahrhundert begründet worden, durch das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ von Mitgliedern des Club of Rome, die gezeigt haben, dass wir die Rohstoffe der Erde nicht nachhaltig konsumieren. Dass alle Ressourcen des Planeten endlich sind, ist zwar eine triviale Einsicht, doch nur wenige haben sie vor der Publikation im Jahr 1972 formuliert. Der Homo sapiens existiert seit etwa 100 000 Jahren. Stellt man sich die Geschichte der Menschheit als 100-Meter-Lauf vor, haben wir erst auf den letzten fünf Zentimetern begonnen, wissenschaftliche Modelle der fernen Zukunft zu entwickeln.
Identität vor Wahrheit
Und selbst wenn wir langfristig denken, kommt uns oft genug die Willensschwäche in die Quere. Wir handeln wider besseres Wissen, genauer: Wir ziehen den schnellen Spaß dem langfristigen Nutzen vor. Obwohl alle wissen, dass unsere Lebenserwartung etwa 80 Jahre beträgt, legt kaum ein 20-Jähriger freiwillig im Monat 600 Euro beiseite, um für seine Pflege im Rentenalter vorzusorgen. Wie viele Experimente verdeutlichen, leben wir eher nach dem Prinzip „Sahnetorte jetzt, Gefäßverengung später“. So haben etwa 90 Prozent der Kalifornier keine Versicherung gegen Erdbeben, obwohl es bis zum nächsten Beben nur eine Frage der Zeit ist. Auch beim Klimawandel könnten wir alle auf Ökostrom umstellen, und auf Urlaubsflüge, Fleisch und neue Mode verzichten. Doch das tun die wenigsten, dafür macht uns unser Lebensstil einfach zu viel Spaß. Außerdem unterschätzen wir systematisch, wie schwierig langfristige Verhaltensänderungen sind, auch das zeigt die Forschung in ernüchternden Experimenten.
So entsteht zwischen unserer Lebensweise und der Tatsache, dass wir weit über unsere Verhältnisse leben, eine Spannung, eine „kognitive Dissonanz“. Die kann man auf zweierlei Weisen auflösen: sein Verhalten ändern oder die Fakten ignorieren, vielleicht sogar leugnen. Viele Menschen wählen den zweiten Weg, denn es ist nicht nur aufwendiger, sein ganzes Leben umzustellen, sondern geht auch mit dem Eingeständnis einher, bisher moralisch falsch gehandelt zu haben. Menschen wollen nicht nur vor anderen, sondern vor sich selbst in einem positiven Licht erscheinen – ihr „Ich-Ideal“ erhalten, wie Freud sagt. Und dieser Drang ist am stärksten, wenn die eigene moralische Identität mit der Identität ihrer politischen Gruppe verschmilzt.
Eine repräsentative Umfrage in den USA zur Frage „Ist der Klimawandel menschengemacht?“ ergab: Von den „konservativen Republikanern“ stimmten nur 10 Prozent zu, unter den „moderaten“ waren es schon 36 Prozent. Bei den „moderaten Demokraten“ bejahten 63 Prozent die Fragen und bei den „liberalen Demokraten“ ganz am linken Rand sogar 78 Prozent. Wer glaubt, die Antworten entsprängen dem mangelnden Sachverstand der Republikaner, der irrt, denn sie waren wissenschaftlich genauso gebildet wie die Demokraten. Das ist einer der großen Schocks der jüngeren Forschung. Testet man nur Versuchspersonen mit einem hohen Rationalitätsquotienten, die gut in Mathematik sind, versagen sie dennoch, sobald sie politisch aufgeladene Themen beurteilen, wie Mietpreisbindung oder den Klimawandel, und zwar Rechte genauso wie Linke. Sie schätzen dann Zahlen schlechter ein als mathematische Laien, und verlieren die Gabe, Argumente nüchtern zu überprüfen. Das hat der amerikanische Psychologe Dan Kahan in aufsehenerregenden Versuchen nachgewiesen. Menschen neigen zur „interessegeleiteten Kognition“ („motivated cognition“), sobald sie ihre moralische Identität schützen. Selbst das langsame Denken hilft dann nicht mehr weiter. Ist der Schalter einmal umgelegt, geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur noch um die Werte, die die Gruppenzugehörigkeit definieren.
Töchter haften für ihre Väter
So war Naturschutz in den Vereinigten Staaten ursprünglich ein Thema der Konservativen. George Bush (senior) hatte 1988 die bis heute umfassendste Umweltgesetzgebung durchgesetzt, um Treibhausgase und Smog zu reduzieren. Seine Wähler lebten mehrheitlich auf dem Land, gingen gerne auf die Jagd und waren naturverbundener als die der Demokraten. Erst als Al Gore im Jahr 2006 mit seinem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ den Klimawandel als globales Problem benannte, machte er aus dem Thema ein Stammessymbol der Demokraten. Das führte zu einem Gegenschlageffekt der Republikaner. Statt dem Gegner zuzustimmen oder die eigene Position zu revidieren, verschieben Menschen ihre Position lieber ins andere Extrem. Diese Trotzhaltung fällt im polarisierten Zwei-Parteien-System der USA besonders stark aus, ist aber weltweit zu beobachten. In den Wahlprogrammen vieler rechtspopulistischer Parteien wie der AfD kommt der Klimawandel deshalb kaum vor.
Unser Mitgefühl, Freiheitssinn und Stammesdenken prägen unsere Moral, und haben eine Grundlage in unseren emotionalen Neigungen. Wer kurzfristig etwas erreichen will, muss genau da ansetzen. Das „Reframing“ vieler Debatten kann erfolgreich sein. Verpackt man Klimaschutz als „Schutz der Rechte zukünftiger Generationen“, lehnen eingefleischte Republikaner die Maßnahmen eher ab, weil sie das an den Sound der linksliberalen Küsteneliten erinnert. Sie reagieren erst, wenn man Umweltzerstörung als Schaden an „Gottes Schöpfung“ darstellt oder als „Verunreinigung“ der heiligen Natur. Bei Konservativen in Europa sieht es ähnlich aus: Eine konkrete Bedrohung für ihren Stamm (Familie, Nachbarschaft, Nation) motiviert sie zum Umweltschutz, eine abstrakte Bedrohung für die Weltbevölkerung lässt sie kalt. Durch harte moralische Vorwürfe allerdings hat noch nie jemand seine Meinung geändert, schon gar nicht durch „Shaming“, indem man etwa Flugreisen tadelt oder SUV-Fahrerinnen beschimpft. Damit fährt man allenfalls symbolische Gewinne ein und Zuspruch bei der eigenen progressiven Gruppe, verstärkt aber den Trotz der anderen.
Individueller Verzicht hat ohnehin keinen messbaren Effekt auf die Erderwärmung, allerdings eine Vorbildfunktion, denn er setzt einen Gesinnungswandel in Gang. Bei Investitionen in die Zukunft des Planeten ist daher ebenfalls langfristige Rationalität gefragt. Wie beim effektiven Altruismus muss man fragen: Wo hilft das Geld am meisten? Eine weltweite CO2-Steuer ist vielversprechend, strenge Dämmungsvorschriften für Dachgeschosse in Europa und Flugverbote wirken dagegen kaum, zumal man Indern und Chinesen nicht vorschreiben kann, in Zukunft auf Urlaub zu verzichten, bloß weil wir im Westen so verschwenderisch gelebt haben. Am effektivsten sind Investitionen in Bildung und Forschung. Deshalb müssen wir langfristig die Hoffnung nicht ganz aufgeben, auch wenn der Identitätsschutz vieler Menschen hartnäckig ist. Noch nie war die Weltbevölkerung so gebildet wie heute. Je jünger die Generation, vor allem im Westen, desto wichtiger sind ihnen außerdem Fairness und Fürsorge, die sie auf die Schwachen der ganzen Welt ausdehnen, selbst auf die Natur. Sie verändern sogar nachweislich das Ökobewusstsein ihrer Eltern. Den stärksten Einfluss haben übrigens Töchter auf ihre Väter. •