Klimakrise
Sonderausgabe 16 - 2020Was können wir wissen – Was sollen wir tun – Was dürfen wir hoffen
Das Symbol der brennenden Erde ist schon lange nicht mehr nur ein Symbol. Die Klimakrise hat uns eingeholt, in Australien, Kalifornien, in Brandenburg. Sie stellt uns vor große Herausforderungen im Denken – und vor allem im Handeln. Traditionell hat die westliche Philosophie die Natur als freie, wilde Schönheit verstanden, die es zu beherrschen gilt. Doch mit jeder weiteren Einwirkung zerstören wir nicht nur unsere eigene Lebensgrundlage, sondern entfernen uns immer weiter von der Einsicht, dass wir in einer mit allen Lebewesen geteilten Welt leben. Deshalb verlangt die Klimakrise nach einer Ethik, die nicht im zwischenmenschlichen Hier und Jetzt stecken bleibt, sondern Menschen in anderen Ländern, zukünftigen Generationen und vielleicht auch anderes Leben mitdenkt.
Die neue Sonderausgabe des Philosophie Magazins widmet sich dem drängendsten Problem unserer Zeit: Was sollen wir tun im Angesicht einer Zukunft, die zur tickenden Zeitbombe geworden ist? Wie können wir die politische Trägheit überwinden? Braucht es dazu eine Revolution oder können wir im Rahmen unserer bestehenden politischen Systeme gegensteuern? Und wie können wir die Lücke, die zwischen Wissen und Handeln klafft, schließen?
Zahlreiche Originaltexte spannen einen Bogen von den Anfängen eines Umweltbewusstseins bis zur Klimaethik der Gegenwart, u.a. von Aldo Leopold, Arne Næss, Rachel Carson, Hans Jonas, Elinor Ostrom, Hannah Arendt, Michel Serres, Jonathan Franzen und Naomi Klein. Dazu Interviews und Beiträge von Bruno Latour, Andreas Malm, Birgit Schneider, John Broome, Peter Singer, Philipp Hübl, Grit Fröhlich, Andreas Weber und vielen mehr.
Themen der Sonderausgabe:
Abschied vom abendländischen Naturbegriff
Die westliche Philosophie hat die Natur lange als etwas betrachtet, das wir beherrschen und kontrollieren können. Es ging darum, sie nutzbar zu machen und uns ihre Bedrohlichkeit mittels Technik vom Leib zu halten. Der Philosoph und Biologe Andreas Weber plädiert dafür, mit diesem Naturbegriff zu brechen und das Klima nicht länger als Ding, sondern als ein mit allen Lebewesen geteilten Atem zu sehen.
Vom Wissen zur Handlung
Die Wissenschaft hat unzählige Daten angehäuft, Karten, Kurven und Messungen. Trotzdem sind die Stimmen der Leugner laut. Die Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider erklärt im Interview, wie Klimaleugner Daten manipulieren und warum wir neue Bilder brauchen, um die Kluft zwischen Wissen und Handlung zu überwinden.
Revolution des Systems
Die Klimakrise ist ein ethisches Problem, das Menschen über alle Grenzen hinweg und vor allem in zukünftigen Generationen betrifft. Zwei verschiedene Ansätze, die am Ende beide von der Dringlichkeit der Lage geleitet sind: Der Philosoph John Broome will mit Steuern und Umverteilung die Krise abwenden. Der Humanökologe Andreas Malm findet, es sei an der Zeit, die aktivistischen Methoden zu eskalieren – und ein paar Pipelines zu sprengen.
Von unten handeln
Während die Politik in Interessenkonflikten und Lobbykämpfen verharrt, fragen sich viele Menschen, was sie selbst tun können und sollten im Angesicht der tickenden Zeit. Es gibt viele Möglichkeiten, aktiv zu werden oder auch einfach zu verzichten. Im Dialog mit Dominique Bourg beantwortet der australische Philosoph Peter Singer praktische Fragen: Darf man eigentlich noch Fleisch essen, mit dem Flugzeug fliegen und Kinder zeugen?
Apokalypse oder Chance
Das schiere Ausmaß dessen, was zu tun ist, kann lähmen – oder aber beflügeln. Der Kollapsologe Pablo Servigne glaubt, dass wir schon verloren sind. Andere haben Hoffnung auf eine neue gerechtere Welt. Jenseits von Utopie und Weltuntergang stellt sich der Philosoph Philipp Hübl die ganz praktische Frage, worin unsere Unfähigkeit, angemessen zu handeln, eigentlich begründet liegt – und wie wir das überwinden können.
Inhalt
- Editorial
- Denkerinnen und Denker
- Literatur
- Chronologie
Eine schleichende Erkenntnis - Zukunftsszenarien
WAS IST DIE NATUR
- „Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen“
Gespräch mit Bruno Latour - Unser geteilter Atem
Andreas Weber - ALDO LEOPOLD
Ende der Eroberung - Mit Pflanzen denken
Grit Fröhlich - ARNE NÆSS
Im Beziehungsgeflecht - Natur als Monster
Nils Markwardt
WAS KÖNNEN WIR WISSEN
- „Die Rottöne sind uns ausgegangen“
Gespräch mit Birgit Schneider - RACHEL CARSON
Ein Frühling ohne Stimmen - Im Zweifel für den Zweifel?
Olivier Rey
WAS SOLLEN WIR TUN
- Theorien der Praxis
- HANS JONAS
Verantwortung übernehmen - Darf man das noch?
Pro /Contra
Dominique Bourg /Peter Singer - CLUB OF ROME
Wachstum zum Tode - „Wir brauchen militantere Methoden“
Gespräch mit Andreas Malm - „Wir können den Klimawandel ohne Revolution lösen“
Gespräch mit John Broome - „Für Geo-Engineering sind wir zu beschränkt“
Gespräch mit Frédéric Neyrat - ELINOR OSTROM
Allmende als Ausweg - HANNAH ARENDT
Generation ohne Zukunft - Wir sind die Neuen
Helena Schäfer - Unser Haus brennt
Greta Thunberg
WAS DÜRFEN WIR HOFFEN
- MICHEL SERRES
Ein neuer Vertrag - „Wir müssen den Zusammenbruch begleiten“
Gespräch mit Pablo Servigne - „Ein Gefühl ist ein Gedanke aus der Zukunft“
Gespräch mit Timothy Morton - Und übermorgen die Endzeit
Christian Berndt - JONATHAN FRANZEN
Auf verlorenem Posten - NAOMI KLEIN
Lebendige Hoffnung - Wo das Rettende wächst
Philipp Hübl
Was ist die Natur?
Bruno Latour: „Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen“
Menschliche Aktivitäten beeinträchtigen schneller, tiefgreifender und langfristiger als je zuvor die Umwelt, was Auswirkungen auf die Lebensbedingungen aller Lebewesen hat. Auf was für einer Erde werden wir zukünftig leben? Und stehen wir mitten in einem „geosozialen“ Klassenkampf um die Zukunft unseres Planeten und unserer Spezies? Fragen an Bruno Latour.

Unser geteilter Atem
Die heutige Klimakrise lässt sich bis zu den Anfängen des abendländischen Denkens zurückverfolgen, als Menschen begannen, die Natur als zu beherrschendes Objekt zu sehen. Von diesem Denken müssen wir uns. Ein Plädoyer für ein Naturverständnis der Gegenseitigkeit.

Mit Pflanzen denken
Pflanzen haben eine praktische Relevanz für die Lösung von Klimaproblemen. Eine aufmerksame Wahrnehmung unserer Beziehung zu ihnen fördert eine andere ethische Haltung, auch in der Klimafrage, sagt Grit Fröhlich in ihrem Essay aus der aktuellen Sonderausgabe zur Klimakrise.

Natur als Monster
Was können wir ausgerechnet von einem japanischen Atombombenmonster über die Rettung des Planeten lernen? In der westlichen Hollywoodversion wird Godzilla besiegt. In den meisten japanischen Originalfilmen überlebt das Ungeheuer. Denn Menschen müssen die Natur ins Gleichgewicht bringen, nicht zähmen und zerstören.

Was können wir wissen?
Birgit Schneider: „Die Rottöne sind uns ausgegangen“
Um den Klimawandel zu verstehen, brauchen Menschen Bilder in Form von Kurven, Karten und Fotografien. Die Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider hat diese Bilder untersucht und erklärt, wie Klimadaten aufbereitet werden und wirken, angefangen bei Temperaturkarten Alexander von Humboldts bis zum Symbol der brennenden Erde.

Im Zweifel für den Zweifel?
„Klimaskeptiker“ berufen sich in ihrem Kreuzzug gegen den wissenschaftlichen Konsens in Sachen Erderwärmung immer wieder auf die Kraft des methodischen Zweifels und die Komplexität der Wirklichkeit. Olivier Rey über Klimaleugner und was sie wirklich antreibt.

Was sollen wir tun?
Darf man das noch?
Wie lässt sich das eigene theoretische Engagement in Sachen Ökologie in die Praxis umsetzen? Einige Antworten darauf geben zwei Philosophen: Dominique Bourg, Professor an der Universität Lausanne, Anhänger einer „integralen Ökologie“, und Peter Singer, australischer Ethiker und Wegbereiter des Antispeziesismus.

Andreas Malm: „Wir brauchen militantere Methoden“
Der schwedische Humanökologe Andreas Malm engagiert sich seit Jahrzehnten in der Klimabewegung und findet angesichts der weitgehenden Tatenlosigkeit der Staaten und Institutionen, dass es an der Zeit ist, über militantere Methoden des öffentlichen Drucks nachzudenken.

John Broome: „Wir können den Klimawandel ohne Revolution lösen“
Um die Klimakrise abzuwenden, fordern viele einen Systemwandel: weg von Wachstum und Kapitalismus. Der Philosoph und Ökonom John Broome glaubt, dass wir die Klimakrise auch in unserem bestehenden Wirtschaftssystem lösen können. Und dass das unsere einzige Chance ist. Er behauptet: Niemand wird Opfer bringen müssen, nicht einmal die Kohleindustrie.

Frédéric Neyrat: „Für Geo-Engineering sind wir zu beschränkt“
Geo-Engineering bietet technische Möglichkeiten, um das Klima auf dem Planeten zu verändern. Frédéric Neyrat sieht die dahinterstehende geozentrische Haltung kritisch. An deren Stelle setzt er einen kosmologischen Ansatz, der die Erde als Teil des Universums denkt.

Wir sind die Neuen
Ein neuer politischer Raum ist entstanden zwischen Trillerpfeifen, Bannern und Schulrucksäcken, in Deutschland und weltweit. Jugendliche protestieren auf den Straßen und blockieren Kohlegruben, um die Gesellschaft wachzurütteln. Mit Hannah Arendt lässt sich sagen: Eine neue Form von Macht ist in einer Generation entstanden, die immer für unpolitisch gehalten wurde und jetzt der Frage gegenübersteht: Wie weit soll Aktivismus gehen?

Was dürfen wir hoffen?
Pablo Servigne: „Wir müssen die Zusammenbrüche begleiten“
Pablo Servigne gehört zu den sogenannten Kollapsologen, die davon ausgehen, dass unserer Welt massive Zusammenbrüche bevorstehen. Als Antwort darauf stellt er sich einen kleinschrittigen, langsamen Systemwandel vor, der mit einer veränderten Weltsicht einhergehen muss.

Timothy Morton: „Ein Gefühl ist ein Gedanke aus der Zukunft“
Um Menschen zu einem Umdenken zu bewegen, setzen viele auf Zahlen und Tabellen. Im Interview erläutert der Philosoph Timothy Morton, warum das ein falscher Ansatz ist und wie uns stattdessen Kunst helfen kann, den Planeten zu retten.

Wo das Rettende wächst
Der Klimawandel bedroht uns alle, dennoch fällt es uns schwer, langfristig zu denken und zu handeln. Warum ist das so? Die Psychologie gibt ernüchternde Antworten. Ein Essay von Philipp Hübl.
