Bruno Latour: „Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen“
Menschliche Aktivitäten beeinträchtigen schneller, tiefgreifender und langfristiger als je zuvor die Umwelt, was Auswirkungen auf die Lebensbedingungen aller Lebewesen hat. Auf was für einer Erde werden wir zukünftig leben? Und stehen wir mitten in einem „geosozialen“ Klassenkampf um die Zukunft unseres Planeten und unserer Spezies? Fragen an Bruno Latour.
Herr Latour, machen Sie sich Sorgen über die Zukunft?
Bruno Latour: Ich würde zunächst sagen, dass sich unsere Vorstellung von der Zukunft radikal verändert hat: Wir sind von einer zeitlichen zu einer räumlichen Variante übergegangen. Im Fortschrittsdenken existierte die Zukunft ohne einen Ort. Heutzutage wird jegliche zeitliche Projektion durch die Tatsache eingeholt, dass man ebenso den Raum definieren muss, in dem wir eine Zukunft haben werden. Das verändert die Situation und die Vorstellungen von Fortschritt, Emanzipation und Hoffnung. Peter Sloterdijk hatte in seiner Sphären-Trilogie, veröffentlicht zwischen 1998 und 2004, bereits diese Frage der Verräumlichung aufgeworfen, ohne sich direkt mit der Erderwärmung zu beschäftigen: Was sind die materiellen Bedingungen, um „da zu sein“ – um als Dasein in der Welt zu sein? Man muss atmen können, Sauerstoff haben, eine bestimmte Temperatur und so weiter. Wo werden wir leben und mit wem? Das ist die grundlegende Frage.
Und sie geht mit apokalyptischen Ängsten einher …
Im Fortschrittsdenken war es die Zukunft – mit dem implizierten wissenschaftlichen und technischen Fortschritt –, von der man eine Lösung erhoffte. Doch heute scheint diese Zukunft bereits verspielt zu sein. Die Angst in Hinblick auf die Zukunft entspringt der Tatsache, dass man früher hätte handeln müssen. Da hätten wir noch etwas verändern, Lösungen finden können. Ich glaube, der Punkt, an dem es kippte, liegt zwischen dem Zusammenbruch der UdSSR (1991) und dem Anfang der Nullerjahre. Zu dieser Zeit, in der wir alle hätten nachdenken können und sollen, fielen sämtliche Hemmschwellen. Heute können wir lediglich noch den Schaden begrenzen und uns auf eine irreversible Katastrophe einstellen. Wie zur Zeit der Atombombe geht es weniger darum, über die Zukunft nachzudenken, als vielmehr über die bedrohte Gegenwart. Das Problem ist also nicht, sich zwischen Optimismus und Pessimismus zu entscheiden, sondern die neue Situation zu verarbeiten und nicht die Hoffnung zu verlieren. Ohne zu glauben, dass wir nur die Ärmel hochkrempeln und gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten müssen, um die Krise zu meistern. Es ist übrigens keine Krise, sondern eine neue Situation, die zu großen Teilen irreversibel ist.
Ist die Klimafrage auch eine Generationenfrage?
Die verschiedenen Generationen haben in dieser Situation nicht dieselbe Verantwortung. Darum kommt es zu jener Verkehrung der Ordnung der Generationen, verkörpert durch die noch sehr junge schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die mich fasziniert: Den Leuten aus meiner Generation, die hätten handeln können, sagt sie: „Wir Jugendlichen sind reif, im Gegensatz zu euch. Ihr seid die Kindsköpfe, die Unreifen.“ Die Jugendlichen sind nicht weiter als wir, sie kommen nach uns. Greta Thunberg trägt zur Verarbeitung dieser neuen klimatischen Situation bei. Endlich eine prophetische Figur. Ein Prophet kümmert sich ja nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart. Im Gegensatz zu den anderen Menschen, die sich mit der Zukunft beschäftigen, weil sie hoffen, am Ende durchzukommen, betont der Prophet, dass es keinen Ausweg gibt. Kollapsologen nehmen diese neue Situation wahr, die mit dem zusammenhängt, was ich als Krise der Erzeugung oder Generation bezeichne.
Wie würden Sie diese Krise definieren?
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