Bruno Latour: „Eine Wahrheit festzuschreiben, hat seinen Preis“
Er war einer der einflussreichsten Philosophen der Welt. Nun ist er in Paris gestorben. In diesem Interview illustriert Bruno Latour seine Vision von Ökologie, spricht über sein ganz persönliches Verhältnis zu Krankheit und Tod und erklärt, warum er Nietzsche für einen Kirchenvater hält.
Bruno Latour ist heute einer der meist zitierten und kommentierten Denker in der akademischen Welt. Er war wissenschaftlicher Direktor des Instituts für politische Studien Sciences Po in Paris, hat in Harvard, an der London School of Economics sowie an der École des Mines gelehrt. Zuletzt schlug er vor, in der Philosophie mit Hilfe von Umfragen zu arbeiten. Denn die Wahrheit könne niemals von einer einzelnen isolierten Person bestimmt werden; sie müsse vielmehr hergestellt, also kollektiv erarbeitet und diskutiert werden. Die große Herausforderung unserer Zeit ist für ihn das „neue Klimaregime“. Der Klimawandel erfordert es, sich von einigen Leitideen der Moderne, wie „Wirtschaftswachstum“, „Fortschritt“ und „Beherrschung der Natur“ zu befreien. Damit dies gelingt, müssen wir auf der Erde ankommen, das Denken neu verorten und uns im Hier und Jetzt orientieren.
In diesem Interview geht es um Latours Arbeitsmethoden, aber auch um die wichtigsten Begriffe, die er in den letzten zehn Jahren geprägt hat, vor allem in seinen Büchern Existenzweisen: Eine Anthropologie der Moderne (2012) und Kampf um Gaia (2015). Aus Anlass des Erscheinens seines jüngsten Buchs Où suis-je ? Leçons du confinement à l'usage des terrestres nahm sich Latour Zeit, uns seine Ideen zu erläutern und sprach auch über sein ganz persönliches Verhältnis zu Religion, Krankheit und Tod.
Das menschliche Denken kann große Distanzen überwinden, von der lokalen zur universellen Ebene wechseln und verallgemeinern. Allerdings scheinen Sie solche Sprünge abzulehnen, Sie bevorzugen es, Schritt für Schritt vorzugehen.
Ich wollte schon immer verlangsamen, dem zurückzulegenden Weg Rechnung tragen. Der Ausdruck „de proche en proche“ [„nach und nach“] kommt in meinem letzten Buch Où suis-je? häufig vor, aber auch schon in meinem ersten Buch Laboratory Life (1979). Meine Arbeit besteht in gewisser Weise in einer Erdung des Denkens und Handelns. Alle Aussagen müssen wieder in ihrem Kontext verortet werden, von dem abhängt, ob sie gültig sind. Nehmen wir als Beispiel den Satz: „Ich repräsentiere Frankreich.“ Diese Aussage ist gerechtfertigt, wenn sie von einer Person kommt, die sich an einem bestimmten Ort befindet – etwa im Elysée-Palast – und durch Direktwahl gewählt wurde. Ich hatte schon immer diesen Drang, Aussagen zu verorten, die in der Luft zu schweben scheinen, von denen wir nicht wissen, an wen sie gerichtet sind, woher sie kommen und deren Relevanz und Stichhaltigkeit man somit nicht abschätzen kann. Diese Methode habe ich mir bei dem großen amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel (1917-2011), abgeschaut. Der erste Untersuchungsgegenstand, auf den ich sie anwandte, waren die Naturwissenschaften. Ich habe am Boom einer Forschungsrichtung mitgewirkt, die man in den späten 1970er Jahren Science Studies nannte. Bis dahin schienen wissenschaftliche Wahrheiten vom Himmel zu fallen. Die Science Studies zeigten, dass sie in Labors, durch Experimente, Statistiken, Modelle, Hypothesen und Widerlegungen entwickelt wurden.
Da taucht auch schon ein Problem auf. Nehmen wir zum Beispiel die Aussage: „Wasser kocht bei 100°C.“ Mit Ihrer Methode werden Sie zeigen, dass diese Formulierung nur deshalb wahr ist, weil ein gewisser Santorio Santorio im 17. Jahrhundert ein Thermometer erfunden hat, und schließlich, weil die Celsius-Skala im 18. Jahrhundert entwickelt wurde. Handelt es sich also um eine universelle Wahrheit oder um eine Schlussfolgerung, zu der man durch Bricolage kommt?
„Wasser kocht bei 100°C“ ist eine Wahrheit innerhalb eines bestimmten Netzwerks von Instrumenten, die Sie ansprachen.
Aber kocht Wasser nun bei 100°C oder nicht?
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