Sich selbst das Ja-Wort geben
Immer mehr Menschen suchen das Glück nicht bei anderen, sondern bei sich selbst. Weltstars wie Miley Cyrus und Selena Gomez inszenieren ihr Selbstbekenntnis sogar feierlich in aller Öffentlichkeit. Was steckt hinter dem blumigen Trend der Selbstliebe?
In ihrem neuen Song „Flowers“ singt die US-Sängerin Miley Cyrus von ihrem Liebesglück – ohne Partner: „I can buy myself flowers; write my name in the sand; talk to myself for hours; say things you don’t understand (…) I can love me better, baby“. Ihre Kollegin Selena Gomez war zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Monate verheiratet, und zwar mit sich selbst. Sologamie nennt sich die Selbsthochzeit von Gomez, die die Liebe zu sich selbst durch eine symbolhafte Zeremonie bestätigt hat. Die Trauung war dabei nur schwer von einer gewöhnlichen Hochzeit zu unterscheiden. Auf einem Bild, das die 30-Jährige zu ihrem Geburtstag auf Instagram veröffentlichte, ist sie im Hochzeitskleid und mit Blumenkind zu sehen. Lediglich ein Partner an ihrer Seite fehlt.
Der eigentümliche Fall der Sologamie ist gerade unter Prominenten kein ganz neues Phänomen und emotionale Rachesongs, wie der von Miley Cyrus, sind es auch nicht. Trotzdem scheint die expressive Selbstliebe vielen Followern und Fans gerade jetzt aus dem Herzen zu sprechen. „Flowers“ wurde in den letzten zwei Wochen so oft gestreamt wie kein anderer Song zuvor in diesem Zeitraum.
Quellen der Empathie
Der Selbstliebe kommt nicht unbegründet ein guter Ruf zu. Jean-Jaques Rousseau unterschied sie von der egoistischen, männlich geprägten Eigenliebe, die eine Art Pervertierung der natürlichen Liebe zu sich selbst darstelle. Der Mensch habe von Natur aus ein Potenzial zur Selbstliebe und damit einen Antrieb zur Selbsterhaltung wie zur Selbstakzeptanz. Erst aus dieser erquickenden Quelle der Selbstakzeptanz könne er ein Empathievermögen und einen sozialen Sinn entwickeln. „Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlaßt, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, im Menschen von der Vernunft geleitet und durch das Mitleid modifiziert, die Menschlichkeit und Tugend hervorbringt.“
An diese positive Deutung von Selbstliebe schließt der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm zwei Jahrhunderte später an. Er beschäftigt sich besonders mit der psychologischen Relevanz von Selbstliebe. In seinem Werk Die Kunst des Liebens beschreibt er sie als konstitutiv für die Fähigkeit, andere Menschen zu lieben: „Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein zu sein, die Bedingung dafür, in der Lage zu sein, zu lieben.“ Das Selbst sollte, so Fromm, nicht von anderen Liebesobjekten unterschieden werden. Zugleich sich selbst und andere zu lieben, schließt sich demnach nicht aus. Im Gegenteil: Die Liebe zu sich selbst und die Liebe zu anderen ist untrennbar miteinander verbunden. Denn Liebe ist als prinzipiell bejahende Haltung zur Welt zu verstehen, die sich nicht in einer einzigen Empfindung – wie der liebenden Zugewandtheit zu sich selbst oder einer anderen Person – erschöpft. Ähnlich wie bei Rousseau kann das Ich also auch für Erich Fromm erst dann eine Liebesbeziehung mit seiner Umwelt eingehen, wenn es sich vorher selbst akzeptiert und lieben gelernt hat. Der Narzisst verharrt dagegen im Modus der „Eigenliebe“, die bereits Rousseau der gelingenden „Selbstliebe“ gegenübergestellt hat: Um eine mangelhafte Liebesfähigkeit zu kompensieren, wird dabei das eigene Ich in den Mittelpunkt gestellt. Letztlich wird der Narzisst jedoch von einem ständigen Veränderungswillen getrieben; geplagt von dem Drang, sich beweisen zu wollen, und gepeinigt durch die fehlende Liebe zu sich selbst.
Ambivalentes Glück
Können wir nun davon ausgehen, dass Rousseau oder Fromm zu den ersten Gratulanten von Gomez’ Selbsthochzeit gehört hätten und Cyrus’ Song in Dauerschleife gelaufen wäre? Sind die meisten von uns gar liebesunfähige Narzissten, weil wir uns nicht selbstehelichen? Dem ist wohl nicht so. Ein entscheidendes Detail ist zumindest bei den prominenten Sologamisten herauszustellen. Sie machen ihre Selbsthochzeit bekannt. Die Übernahme aller klassischen Rituale von konventionellen Trauungen soll den geladenen Gästen vor allem Folgendes zeigen: Ich brauche nur mich, ohne Partner und ohne die Beachtung von gesellschaftlichen, patriarchalen Konventionen. Damit will sich der Sologamist von der Akzeptanz anderer abtrennen. Dennoch: Die Botschaft wird vor der Weltöffentlichkeit, Freunden und Verwandten verkündet, mit dem Ergebnis, dass viele Follower und Angehörige ihre Liebe und Unterstützung für diesen Schritt bekunden. Der Sologamist bedarf also vor allem der Anerkennung anderer, um sich selbst zu lieben.
Und wie verhält es sich nun mit der Rekorde brechenden Anzahl an Hörern des Songs „Flowers“ von Miley Cyrus? Machen auch sie sich der Selbstsucht schuldig? Vielleicht ließe sich hier ein gemäßigteres Urteil fällen. Steht doch der gesungene Text für sich und die Identifikation mit ihm im Vordergrund. Nicht Miley Cyrus bildet das Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern ein dreiminütiges, mit ironischen Anklängen versehenes Plädoyer dafür, mit sich, so wie man sich vorfindet, auch mal allein sein zu können. •
Kommentare
Ich halte das für eine bedenkliche Konsequenz des durchdigitalisierten Hyperindividualismus, eine Art traurig-pathologische Auflösung des Schopenhauer'schen Stachelschweindilemmas: Der moderne Mensch meidet den modernen Menschen.
Eine gesunde Selbstliebe führt nicht zur Selbstheirat und Pflege des Instagram-Profils, sondern zu Beziehungswunsch und Beziehungsfähigkeit mit dem Anderen.
Mit menschenfreundlichen Grüßen,
tomhelman.de