Freundschaft
Sonderausgabe 30 - Sommer 2024Kaum eine Beziehungsform ist so vielgestaltig, so wandelbar und begrifflich so schwer zu fassen wie die Freundschaft. Dennoch wissen wir alle um ihre Kraft. Wo die Situation soeben noch festgefahren schien, eröffnet das Gespräch mit Freunden Auswege. Wo vergangene Erfahrungen und Erinnerungen zu entgleiten drohen, schenken uns alte Freundschaften ein Gedächtnis. Wo wir uns in der Welt unsicher vortasten, können wir nach der Hand des Freundes greifen.
Die Kraft der Freundschaft ist zeitlos. Doch gerade in Phasen des Umbruchs gewinnt sie besondere Bedeutung. Freundschaft stabilisiert, wenn alles andere in Bewegung gerät. In ihr, so schreibt der Soziologe Friedrich H. Tenbruck, „entgeht der Mensch der Desorganisation, mit welcher ihn die Heterogenität seiner sozialen Welt bedroht.“ Freundschaft vermag dabei zu vereinen, was oft als Gegensatz gilt: den Wunsch nach Gemeinschaft und Einzigartigkeit, Wandel und Stabilität, Verbindlichkeit und Freiheit. Sie verspricht sowohl „Wahl“ als auch „Familie“.
Umso besorgniserregender ist, wenn Freundschaften an politischen Konflikten scheitern – eine Entzweiung, die auch auf der Annahme fußt, dass die, die mir nicht ähnelt, die nicht so denkt wie ich, mir nicht nahe sein kann. Und tatsächlich zeigen Studien, dass wir eher mit Menschen gleicher Klasse, gleichen Geschlechts und gleichen Alters befreundet sind. Aber könnte es nicht anders sein? Ist es heutzutage nicht gerade die Aussicht, in der Freundschaft Grenzen zu überwinden, die sie so verheißungsvoll macht? Die Chance, sich Neuem zu öffnen? Und: auf ihrer Basis leidenschaftlich zu streiten?
Mit Christoph Menke, Dieter Thomä, Ronja von Rönne, Wolfgang Kubicki, Mirna Funk, Edgar Selge, Eva Illouz, Sophia Fritz, Donatella Di Cesare u. v. m.
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Alle Texte in der Übersicht
Intro
Was ist ein guter Freund?
Freundschaft ist für viele ein Versprechen des bedingungslosen Zusammenhalts. Für die langjährigen Freunde Christoph Menke und Dieter Thomä liegt das Besondere dieser Beziehungsform an anderer Stelle: in ihrer Freiheit. Doch was, wenn der andere in Not ist? Was bedeutet es, zugleich ein verlässlicher und herausfordernder Freund zu sein?

Wie viel Differenz verträgt die Freundschaft?
Die meisten Freunde ringen und streiten gelegentlich miteinander. Doch wie viel Konfrontation hält eine Freundschaft aus? Welche Unterschiede sind bereichernd und ab wann wird es zu viel? Prominente Personen aus Politik, Literatur und Gesellschaft schildern ihre Sicht.

1. Ist Freundschaft die bessere Liebe?
Geoffroy de Lagasnerie: „Freunde sind eine Anti-Familie“
Wie sähe unser Leben aus, wenn nicht Kinder und Liebespartner, sondern Freunde im Zentrum stünden? Freier, beglückender und aufregender, meint der Soziologe Geoffroy de Lagasnerie und ruft zur amikalen Revolution auf.

Ein Bund für die Ewigkeit
Im Zentrum unserer Kultur steht die Liebe. Sie zu finden, gilt als Bedingung des gelungenen Lebens. Zu Unrecht, argumentiert Eva Illouz: In Wahrheit ist es die Freundschaft, die hält, was die Liebe verspricht.

2. Was schulde ich meinen Freunden?
Rainer Erlinger: „Echte Freundschaft geht über das achte Gebot hinaus“
Sollte ich zu meinen Freunden immer ehrlich sein? Unbedingt, meint der Autor, Jurist und Arzt Rainer Erlinger. Mehr noch: Echte Freundschaften verlangen Aufrichtigkeit. Stellt sich diese nicht von selbst ein, ist die Verbindung nicht so tief wie gedacht.

Alles für die Unseren?
Wir halten zu unseren Freunden. Oft sogar dann, wenn es anscheinend keine guten Gründe dafür gibt. Aber sollten wir das wirklich?

3. Ist mein Freund mein Spiegel?
Die Kraft der Unterschiede
Im Einklang mit einem anderen Menschen zu denken, zu fühlen und zu handeln, beschert uns oft Momente der besonderen Lebensfülle. Doch ist Einheit immer erstrebenswert? Oder liegt der wahre Reiz vielmehr in einem kontrastreichen Miteinander?

Andreas Weber: „Wir sollten in Freundschaft zu allem Lebenden existieren“
Ist es möglich, mit Tieren oder gar Pflanzen befreundet zu sein? Ja, meint der Biologe, Philosoph und Publizist Andreas Weber. Ein Gespräch über nichtmenschliche Gefährten und die Frage, ob man seine Freunde essen darf.

Krücken der Freundschaft
Tief empfundene Verbundenheit ist selten. Selbst in guten Freundschaften braucht es daher Hilfsmittel, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Ähnlichkeit befördern. Sie widersprechen dem Ideal der reinen Eintracht, wirken wohldosiert aber Wunder.

4. Muss Freundschaft sich lohnen?
Man hilft sich, wo man kann
Freundschaft ist nicht der Gegenentwurf zum Egoismus, sondern dessen erweiterte Form. Max Horkheimers Rackettheorie kann helfen, diese sanfte Art der Korruption zu verstehen.

Gibt es uneigennützige Freundschaften, Herr Granovetter?
Wie entsteht Freundschaft? Vor allem durch gemeinsame, intensive Zeit, meint der Soziologe Mark Granovetter. Ein Gespräch über emotionale Nähe, Freundschaft in der Ferne und das Ideal der Selbstlosigkeit.

Exkurs: Einmaleins der Freundschaft
Philosophische Freundschaften
Anders als das Klischee vom einsamen Denker vermuten lässt, führten viele Philosophinnen und Philosophen intensive freundschaftliche Beziehungen. Von wahrer Seelenverwandtschaft bis hin zu schmerzhaften Zerwürfnissen war alles dabei. Ein Überblick legendärer Gefährten.

5. Machen Freunde mich schwächer?
Das Versprechen der Einsamkeit
Denker wie Nietzsche und Kierkegaard loben die intellektuelle Isolation. Doch ist es für das eigene Schaffen tatsächlich notwendig, wenn überhaupt möglich, der Freundschaft zu entsagen?

Sind Frauenfreundschaften toxisch, Frau Fritz?
Freundinnen muten sich Kritik weitaus weniger zu als Männer, so die Autorin Sophia Fritz. Damit bestätigen sie noch heute ein Bild, das sich auch in der Philosophiegeschichte verfestigt hat.

6. Brauchen wir eine Politik der Freundschaft?
Donatella Di Cesare: „Es gibt keine Demokratie ohne Gastfreundschaft“
Gastfreundschaft gilt oft als Maßstab für eine humanere Migrationspolitik. Zu Recht? Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare erklärt, warum wahre Demokraten die Welt nicht in Gastgeber und Gäste einteilen und was sich mit Aischylos und Derrida dennoch aus dem Konzept lernen lässt.

Zwischen Brüderlichkeit und Herrschaft
Philosophen der Antike waren überzeugt: Ohne Freundschaft kann es kein Gemeinwesen geben. Die Neuzeit sah es umgekehrt: Freundschaft hat in der machtbestimmten Politik nichts verloren. Seit der Französischen Revolution versucht man nun Eigeninteresse und Solidarität zu verbinden.

7. Hat Freundschaft Grenzen?
Teilzeitfreunde
Freunde sind füreinander da, vorbehaltlos und vollumfänglich – so das Ideal. Im Alltag allerdings teilen wir oft nur Ausschnitte unseres Selbst. Droht dadurch eine Verarmung oder liegt gerade darin ein Gewinn?

Ein Leben in Freundschaften
Manche Freunde begleiten uns ein Leben lang, andere nur für einen kurzen Abschnitt oder zu einem bestimmten Zweck. Sechs typische Arten der Freundschaft mit Vorbildern aus Film und Literatur.

Schluss machen geht nicht
Wahre Freundschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht beendet werden können und auch nicht von selbst enden. Entstehen können sie nur in Lebensphasen verletzlicher, radikaler Offenheit.
