Kriegsfront und Kinderwunsch
Viele Soldaten weltweit lassen ihr Sperma einfrieren, das immer öfter auch nach dem Tod des Spenders zur Zeugung genutzt wird. Doch wie ist diese Praxis ethisch zu bewerten, die menschlich so verständlich scheint?
Die ukrainischen Soldaten wollen für den schlimmsten Fall vorbereitet sein. Immer mehr lassen ihre Spermien einfrieren. Die Front könnte die Männer zeugungsunfähig heimkommen lassen. Die sogenannte Kryokonservierung ließe sich aber auch anders nutzen: Eine künstliche Befruchtung mithilfe der Spermien nach dem Tod des Mannes an der Front. Viele Paare fordern, dass diese bisher illegale Praxis von der Politik legalisiert werden soll. Die ukrainische Regierung möchte derzeit ein Gesetz auf den Weg bringen, das eine postmortale Nutzung der Spermien ermöglicht.
Der „Ansturm“ auf Kinderwunschkliniken ist in der Ukraine ein Phänomen, das angesichts der Geburtenzahlen verwundert. Tatsächlich hatte die Ukraine über Jahrzehnte eine der niedrigsten Fertilitätsraten weltweit vorzuweisen (2019: 1,14 Geburten pro Frau). Seit dem russischen Angriffskrieg verschlimmerte sich diese Situation. Die britische Zeitung The Guardian veröffentlichte im August Zahlen, die Erwartbares zeigten: In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden pro Monat im Schnitt 16.000 Babys in der Ukraine geboren. Vor Russlands Angriffskrieg waren es 23.000. Den Daten mangelt es jedoch an Aussagekraft, bedenkt man die vielen flüchtenden Ukrainerinnen, die außerhalb des Landes gebären, in der Statistik aber nicht vorkommen.
Ein Land voller Halbwaisen?
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