Patrice Maniglier: „Deleuze ist ein erstaunlicher Seismograph des Werdens“
Gilles Deleuze, der morgen vor 100 Jahren geboren wurde, verstand Philosophie nicht primär als Diskurs, sondern als kreative Praxis. Im Interview erklärt Patrice Maniglier, wie Deleuzes Ideen bis heute Anthropologie, Kunst, Psychoanalyse, Ökologie und Politik prägen.
Herr Maniglier, wenn Sie die Besonderheit von Deleuze in einem Wort zusammenfassen müssten, was würden Sie sagen?
Deleuze sagte es selbst: Er war der philosophischste seiner Generation, auf jeden Fall derjenige, der am unschuldigsten Philosophie betrieb - ohne von der Frage nach dem Tod der Philosophie berührt zu werden. Er ist ein reiner Philosoph, d. h. ein Metaphysiker! Es sieht so aus, als würde er sich zu großen, bekannten Fragen äußern (Kapitalismus, Psychoanalyse usw.), aber er baut durch sie hindurch ein philosophisches System auf. Er hat eine esoterische Seite. Im Gegensatz zu Foucault ist er nicht jemand, der uns interessante Dinge über die Fragen, die uns beschäftigen (Sexualität, Gefängnis, Sprache usw.), erzählen will. Er zielt auf die Konstruktion dieses seltsamen versteckten Objekts ab, das man „eine Philosophie“ nennt. Eine Philosophie ist wie ein inneres Schloss, das aus reinen Gedanken gemacht ist, dass man seine Zeit damit verbringt, es in seinem Kopf zu bauen, wie ein Kind in seinem Zimmer oder seiner Hütte, um es für sich selbst zu betrachten. Seine Bücher dienen nicht so sehr dazu, die Meinungen der Menschen über dieses oder jenes Thema zu ändern, sondern sie darüber zu informieren, was in diesem Schloss vor sich geht, weil es ihnen, wie er denkt, für ihre eigenen kleinen Angelegenheiten guttun würde, wenn sie diese seltsame Reise ein wenig verfolgen könnten. Deshalb sind sie nicht immer offensichtlich. Man muss sie lesen, wie man Gemälde betrachtet. Sie sind eher Textobjekte als Kommunikationsmittel: wie kleine Karten, um sich ein Bild von der Burg zu machen. Er wiederholt es: Philosophie ist für ihn eine Sache der Kreation, nicht der Diskussion. Sie besteht nicht darin, Ideen oder Bedeutungen zu vermitteln, sondern ein Objekt, dieses seltsame Volumen, das „eine Philosophie“ ist, begreifbar zu machen. Das ist Metaphysik: die Liebe zu philosophischen Systemen um ihrer selbst willen. Deleuze hat für unsere Zeit die Philosophie in ihrer reinsten Form verkörpert, und zwar wortwörtlich, d. h. auch mit seinem Körper, wie man in L'Abécédaire sieht. Was man im Mittelalter über Aristoteles sagte, sollte man heute über Deleuze sagen: Er war der Philosoph.
„Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein“, sagte Foucault. Was meinen Sie dazu?
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