Warum sind Menschen ständig so gereizt?
Wer in Berlin unterwegs ist, kennt dieses Phänomen: Ständig werden Leute in der Öffentlichkeit angeschrien. Es wirkt so, als ob der öffentliche Raum die perfekte Bühne für Nervenzusammenbrüche ist. Warum? Eine Erklärung mit Georg Simmel.
Auf dem Weg nach Hause bin ich kürzlich in eine – natürlich – überfüllte Tram gestiegen. Es war 18 Uhr, jeder in Berlin will zu dieser Zeit nach Hause oder wohin auch immer, um Feierabend zu machen. Neben mir rempelte eine Person eine andere an. Das Kuriose war, dass nicht die Person, die angerempelt wurde, sich beschwerte, sondern die, die angerempelt hatte. Sie beschuldigte die andere, im Weg zu stehen. Dabei steht in so einer vollen Tram nun wirklich jeder irgendwie im Weg. Am nächsten Morgen eine ähnliche Szene: An einer Kreuzung brüllten sich ein Fahrrad- und Autofahrer gegenseitig an. Natürlich hatte der eine oder der andere mal wieder etwas falsch gemacht… Als ich kurz darauf im Supermarkt war, hörte ich, wie auch die Person an der Selbstbedienungskasse neben mir jemanden anschrie.
Simmel und das Großstadtleben
Laut Georg Simmel sind Menschen „Unterschiedswesen“ – sie nehmen ihre Umgebung nicht isoliert wahr, sondern im Vergleich zu vorherigen Eindrücken.
Gleichzeitig beschreibt Simmel die Großstadt als einen Ort permanenter Reizüberflutung. Menschen sind täglich zahllosen Sinneseindrücken ausgesetzt, die ständig wechseln – Lärm, Werbung, Hektik oder das Verkehrschaos. Um sich davor zu schützen, entwickeln Menschen eine Art sinnliche Abstumpfung, die Simmel „Blasiertheit“ nennt. Diese äußert sich in einer gleichgültigen, distanzierten Haltung gegenüber der Umgebung. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Reize völlig unbemerkt bleiben – wie es bei den „Stumpfsinnigen“ der Fall ist, wie Simmel sie nennt. Vielmehr werden die Umgebung und die Veränderungen zwar wahrgenommen, aber nicht als bedeutend empfunden.
Vielleicht ist gerade das der Grund, warum Menschen in der Großstadt oft unbeteiligt oder uninteressiert wirken – sie können schlicht nicht auf jede neue Situation reagieren. Dies zeigt sich besonders in einer Haltung, die ich gerne „die Kunst des Ignorierens“ nenne – in der Berliner wahre Meister sind. Menschen laufen aneinander vorbei oder nehmen ihre Umwelt kaum wahr. Das hektische Stadtleben wird zur Normalität, und irgendwann beeindruckt nichts mehr so richtig: „Ach ja, schon wieder eine spontane Demo am Brandenburger Tor…“ oder „Ach ja, schon wieder jemand, der im U-Bahn-Wagen mit einem Basketball dribbelt…“
Auch die Abläufe in einer Großstadt sind laut Simmel sehr komplex. Dies liegt zum einen daran, dass in Großstädten sehr viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen aufeinandertreffen. Zum anderen sind Großstädte „die Sitze der Geldwirtschaft“, in denen das Leben von wirtschaftlichen Strukturen bestimmt wird, die auf Präzision und Pünktlichkeit angewiesen sind. Ohne eine genaue Zeitplanung und die strikte Einhaltung von Vereinbarungen würde die Stadt, so Simmel, „in einem unentwirrbaren Chaos“ zusammenbrechen. In diesem Zusammenhang wird Zeit zu einer kostbaren Ressource und Verspätungen werden als ernsthafte Bedrohung für das gesamte System wahrgenommen: Welcher Berliner kennt es nicht? Wir warten keine zehn Minuten auf die nächste U- oder S-Bahn. Aber wehe, die Bahn hat Verspätung oder die BVG streikt – plötzlich scheint die ganze Stadt stillzustehen, und jeder fühlt sich hilflos.
Reserviertheit als Schutzmechanismus
Die städtische Ansammlung vieler Menschen und ihre verschiedenen Interessen führen zu einem Leben, das von oberflächlichen und flüchtigen sozialen Beziehungen geprägt ist. Die meisten Menschen, denen wir im Alltag begegnen, werden wir nie wiedersehen. Und obwohl wir uns in der U-Bahn oder im Supermarkt körperlich ständig nahekommen – besonders in der Rushhour oder am Samstagabend – bleiben wir emotional und sozial voneinander entfernt.
Aus diesem Phänomen entwickelt sich eine weitere Eigenschaft der Stadtbewohner: die Reserviertheit. Simmel erklärt, dass sich diese Haltung in einer Art innerer Distanz gegenüber anderen Menschen zeigt. In einer Großstadt ist der Mensch ständig von fremden Menschen umgeben, was tiefgründige, emotionale Begegnungen fast unmöglich macht. Der Mensch muss eine Art Schutzschild entwickeln, um sich nicht von der Masse überwältigen zu lassen.
Laut Simmel kann diese Reserviertheit sogar in eine Abneigung oder Aversion umschlagen. In überfüllten S-Bahnen oder auf engen Straßen, wenn uns ein Fremder zu nah kommt, kann das leicht zu Ärger führen – manchmal sogar zu „Hass und Kampf“.
Die Stadt als Ort der Konflikte
Die ständige Reizüberflutung und die unzähligen Begegnungen mit anderen Menschen führen zwar zu einer Art Gleichgültigkeit, die notwendig ist, um in einem so stimulierenden Umfeld überhaupt funktionsfähig zu bleiben. Doch Simmel geht hier womöglich nicht weit genug. Irgendwann muss diese Gleichgültigkeit in eine andere Reaktion umschlagen.
Simmel selbst stellt fest, dass Menschen zwar nicht mehr aktiv auf ihre Umgebung reagieren, sie jedoch weiterhin wahrnehmen. Genau darin liegt die Gefahr: Die ständige „Anhäufung“ von Reizen und der permanente Versuch, sich davor zu schützen – all das belastet zunehmend das Nervensystem. Vielleicht reagieren Menschen deshalb übertrieben feindselig auf kleine Vorstöße, weil sie sich ohnehin ständig überfordert fühlen. Der ständige Zeitdruck, das Hasten von A nach B und die vielen unterschiedlichen Herausforderungen im Alltag setzen uns dermaßen unter Stress, dass uns die Fähigkeit fehlt, ruhig zu bleiben, wenn an der Kasse jemand zu langsam zahlt oder man nicht sofort mit offenen Armen vom Hausarzt empfangen wird.
Hinzu kommt, dass man in der Großstadt ständig fremden Menschen begegnet, ohne langfristige Beziehungen aufzubauen. So kann man in der Stadt auf unfreundliches Verhalten zurückgreifen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen – schließlich wird man diesen Menschen vermutlich nie wiedersehen. Höflichkeit scheint in einem Umfeld, das von Reserviertheit geprägt ist, überflüssig zu sein. Andere Menschen werden nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern als Hindernisse, die man umgehen muss, um den Tag zu bewältigen. Sie wirken wie anonyme Störfaktoren, die einem beispielsweise den Sitzplatz wegnehmen oder den Weg blockieren.
Anstatt diese Gereiztheit einfach hinzunehmen, könnte es jedoch sinnvoller sein, sich mehr darum zu bemühen, bewusst sensibel zu sein: Ab und zu die Umgebung als bedeutend empfinden, sich durchaus von den kleinen Dingen irritieren lassen und versuchen, mit den Menschen, denen man begegnet, eine Verbindung aufzubauen – sei es auch nur durch ein Lächeln oder einen dummen Witz beim Bäcker – auch wenn das anstrengender klingt. Vielleicht ist man in der Großstadt widerstandsfähiger, wenn man keinen dicken Panzer um sich aufbaut, der einem letztendlich nur zum Nervenzusammenbruch führt, wenn mal wieder etwas nicht nach Plan läuft, sondern wenn man stattdessen aufgeschlossen bleibt und auch in der Hektik die Fähigkeit bewahrt, sich beeindrucken zu lassen. •