Cornel West: „Amerika ist unterwegs in den Nihilismus“
„Ich kandidiere für Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Mit diesen Worten kündigte Cornel West am 5. Juni seine Präsidentschaftskandidatur an. 2016 haben wir mit dem Philosophen über alltäglichen Rassismus, heilende Komik und eine Enttäuschung namens Barack Obama gesprochen.
Kaum hat er die Tür seines Büros an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton geöffnet, breitet Cornel West seine Arme weit aus und setzt zu einer festen Umarmung an. Ein lachender Philosoph, dessen tiefe Liebe zu Jazz und Blues bereits im Klang seiner Stimme zum Ausdruck kommt. West ist kein Professor wie jeder andere, sondern als politischer Aktivist regelmäßiger Gast in den großen amerikanischen Radio- und Fernsehshows. Sogar in Hollywood-Blockbustern wie „Matrix Reloaded“ ist er in einer Rolle als „Dr. West“ zu bewundern. Natürlich erregt er mit dieser Popularität auch Argwohn, provoziert, eckt an. Wie seine große Leitfigur, Martin Luther King, scheut er keine Kontroverse, geht rhetorisch scharf vor. Im Jahr 2008 noch einer der großen Unterstützer von Barack Obama, hat sich West mittlerweile zu einem der schärfsten Kritiker des amerikanischen Präsidenten entwickelt.
Philosophie Magazin: In seinem Meisterwerk The Souls of Black Folk (Die Seele der Schwarzen) beschreibt der große afroamerikanische Intellektuelle W. E. B. Du Bois (1868–1963) sein durch den Rassismus der amerikanischen Gesellschaft ausgelöstes Gefühl, „ein Problem zu sein“. Haben Sie dieses Gefühl jemals gehabt?
Cornel West: Ich bin unter Schwarzen aufgewachsen: eine ganz andere Erfahrung als bei Du Bois, der einer der wenigen Schwarzen in der Stadt war, in der er lebte – auf der weißen Seite Amerikas. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich ein Problem sei, denn wir hatten alle die gleiche Hautfarbe. Du Bois wird von der Frage „Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein“ verfolgt, denn der einzige Blick auf sich selbst, den er hat, ist der Blick aus der normativen weißen Sicht, also: „Ihr Schwarzen seid ein Problem.“ Meine Ausrichtung ist eine ganz andere.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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