René Descartes: Unterwegs zur Wahrheit
Mit den Mitteln der radikalen Skepsis gab René Descartes der Philosophie ein neues Fundament. Sein Diktum des „Ich denke, also bin ich“ macht das menschliche Bewusstsein zum Ausgangspunkt wahrer Welterkenntnis.
„Maskiert gehe ich meinen Weg.“ Indem er aus seinem Leben ein Rätsel machte, hat René Descartes zahlreiche Biografen in Ratlosigkeit gestürzt. Es ist verständlich, dass sich mit diesem Bild des Rückzugs vor den Blicken der Mitmenschen ein Missverständnis etablieren konnte: Wenn Descartes im Verborgenen lebte, heiße das, dass er etwas zu verbergen hatte. Mitglied einer Geheimgesellschaft, Libertin, der geschickt seine Überzeugungen kaschierte. Der Verfasser der Abhandlung über die Methode war eine Persönlichkeit wie geschaffen dafür, dass sich um seinen Namen Legenden ranken.
Geboren wird er am 31. März 1596 in La Haye, einem Städtchen in der Touraine, das inzwischen nach ihm benannt ist. Sein Vater Joachim ist Rat am Obersten Gerichtshof von Rennes. Seine Mutter, Jeanne Brochard, stammt aus einer angesehenen Ärztefamilie. Sie ist – Ironie des Schicksals – von eher zarter Gesundheit, und der junge René kommt um das mütterliche Erbe nicht herum. Erst mit mehr als 20 Jahren bekommt er den blassen Teint und den trockenen Husten los, die ihn seit der Kindheit begleitet haben. Seine schwache Konstitution wird zum Trumpf, als Descartes mit elf Jahren ins Jesuitenkolleg von La Flèche eintritt. Er bekommt dort eine Vorzugsbehandlung: Während seine Kameraden jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, um am gemeinsamen Gebet teilzunehmen, gesellt er sich nicht vor zehn Uhr zur restlichen Truppe hinzu, nach mehreren Stunden des Sinnierens im Bett.
Beim Austritt aus dem Kolleg entschließt sich Descartes, vermutlich dem Willen seines Vaters nachgebend, zu einem Studium der Rechte in Poitiers. Doch den jungen Mann dürstet es nach Abenteuern. Nach so vielen Jahren, die er in der stickigen Atmosphäre der Bibliotheken verbrachte, will er gern reisen, andere Sitten und Bräuche entdecken. Das Einzige, was ihn fortan interessiert, ist jenes „große Buch der Welt“, das er Jahre später in der Abhandlung über die Methode erwähnt. Mit 21 Jahren verdingt er sich in den Niederlanden als Freiwilliger im Heer von Moritz von Nassau, damals Prinz von Oranien.
Die Mathematik als Triebkraft
Die Erfahrung erweist sich als Desaster. Er, der seit dem Kolleg immer in die Gunst eines Zimmers gekommen war, in das er sich zurückziehen konnte, fühlt sich verloren inmitten von Landsknechten, deren Rohheit und Unwissenheit ihn deprimieren. Nach zehn Monaten Selbstquälerei irrt er ziellos durch die Straßen von Breda, als sich eine Begegnung ereignet, die sein Leben verändert. Der junge Mann heißt Beeckman. Kaum älter als Descartes, ist er auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeiten seiner Zeit und offenbart dem künftigen Denker, was dieser noch nicht weiß: dass zahlreiche physikalische Probleme mittels mathematischer Formeln gelöst werden können. Die Überlegungen des jungen Franzosen mit dem Ziel einer Ausweitung der mathematischen Gewissheit auf das gesamte Wissen haben hier zweifelsohne ihre Wurzeln.
Für den Augenblick zerstreut er sich auf Reisen. Er bricht nach Deutschland auf, wo sich der Dreißigjährige Krieg anbahnt, um sich im bayerischen Heer zu verpflichten und an den Schlachten teilzunehmen. Später wird er sagen, er sei nicht „unempfänglich für den Ruhm“ gewesen. Doch in diesem Bereich wie in anderen zeigt Descartes die Unstetheit der Passionierten: schnell begeistert, schnell enttäuscht. Rasch vergeht ihm die Lust, sich zu schlagen. Er ist in Neuburg, an den Ufern der Donau, als sich ein Ereignis zuträgt, das ihn in seiner wissenschaftlichen Berufung bestärkt. In der Nacht vom 10. zum 11. November 1619 hat er eine Reihe von Träumen, die er als hinreichend wichtig beurteilt, um sie gleich am nächsten Morgen in einem Abschnitt seines Notizbuchs, den er „Olympica“ nennt, zu beschreiben. Diese Träume symbolisieren die Zweifel des Philosophen, der sich anschickt, die Welt nach anderen Schemen zu denken als den aus der göttlichen Offenbarung übernommenen. Sie bringen seine Berufung an den Tag. Er verlässt die Armee, um sein Leben künftig der Wissenschaft zu widmen.
Im Herbst 1623, noch immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen, begibt sich der Philosoph nach Italien, jenes Land, „wo stets tagsüber unerträgliche Hitze und abends ungesunde Frische herrschen, und wo die Dunkelheit der Nacht Diebstahl und Mord birgt“. Er geht dort in Gelehrtenkreisen ein und aus, wie er es auch nach seiner Rückkehr in Paris tut. Doch seine Arbeiten schreiten kaum voran, da er sich nicht zurückziehen kann, um seine Überlegungen zu vertiefen und auszuarbeiten. Er beschließt also, sich in der Bretagne auf dem Lande einzurichten. Unglücklicherweise muss er sich dort mit einem gesellschaftlichen Leben und mit sozialen Gepflogenheiten auseinandersetzen, die ihn beinahe Paris nachtrauern lassen. Überzeugt davon, in Frankreich keinen Hort des Friedens zu finden, bricht er Ende 1628 wieder in die Niederlande auf. Er hat sie als Land in Erinnerung, in dem es jedem freisteht, seinen Angelegenheiten nachzugehen, ohne sich um die von anderen kümmern zu müssen. Descartes beendet hier seine Wanderjahre. Er kehrt nur dreimal nach Frankreich zurück, ohne je lange zu bleiben.
Im Zweifel für den Zweifel
Während seiner Jahre in den Niederlanden wechselt der Philosoph oft seinen Wohnsitz. So oft, dass Adrien Baillet, sein erster Biograf, sein Einsiedlertum beschrieben hat als ein Leben „ohne etwas Beständigeres, als es die Israeliten auf ihrem Zug durch die arabische Wüste hatten“. Was gleichwohl sein Werk nicht daran hindert, Gestalt anzunehmen. 1633 beendet er den Text, an dem er seit seiner Ankunft arbeitet. Die Abhandlung über die Welt unterstützt die Theorie der Bewegung der Erde. Doch im gleichen Jahr wird Galilei für eine identische These verurteilt. Descartes verzichtet aus Angst vor einer Kontroverse auf die Publikation. Er zieht es vor, die Öffentlichkeit auf anderen Wegen zu erreichen. Im Juni 1637 erscheint anonym die Abhandlung über die Methode, 1641 mit den Meditationen ein Werk, das Epoche machen sollte.
Er hätte, nachdem er endlich das lange herangereifte Werk veröffentlicht hatte, seinen Frieden finden können, doch wird er brutal mit dem Verlust zweier enger Angehöriger konfrontiert. Einige Jahre zuvor war ihm aus einer Beziehung zu einer Bediensteten eine Tochter geboren worden. Eine vorübergehende Beziehung, zu der Descartes vermerkte, „dass das Kind in Amsterdam am Sonntag, dem 15. Oktober des Jahres 1634 gezeugt wurde“. Der Tod seiner Tochter Francine 1640 und einen Monat später der seines Vaters sind für den Philosophen entsetzlich harte Prüfungen. Nichts kann ihn von seinem Kummer ablenken, nicht einmal die Debatten des intellektuellen Lebens. Seine Thesen sind weit davon entfernt, unter den Theologen einhellige Zustimmung zu finden: Man ist beunruhigt, dass der Zweifel und die Skepsis in seinen Schriften eine solche Wichtigkeit einnehmen, was ihn schließlich den Kirchenoberen verdächtig macht. Noch im Jahr 1640 wird, ohne dass er benachrichtigt wird, in Paris vom Jesuiten Bourdin eine öffentliche Diskussion seiner Philosophie organisiert. Im folgenden Jahr übernehmen die holländischen Theologen mit doppelter Heftigkeit: Gisbert Voetius, der größte Eiferer unter ihnen, beschuldigt Descartes gar des Atheismus. Geduldig antwortet der Philosoph seinen Widersachern. Die Polemik setzt sich mehrere Jahre lang fort, um nach einer Intervention des Prinzen von Oranien schließlich abzuebben.
Descartes wäre zweifellos in seiner Wahlheimat gestorben, hätte er im Herbst 1649 nicht der dringlichen Einladung der Königin Christina von Schweden Folge geleistet. Es dauert nicht lange, bis er sich über seinen Fehler klar wird. Während er für gewöhnlich nachts zehn Stunden schläft und seinen Geist noch mehrere Stunden schweifen lässt, bevor er sich aufrafft, muss er nun jeden Morgen um vier Uhr aufstehen, um die Herrscherin in die Feinheiten seiner Metaphysik einzuweihen. Bald hat er nur noch einen Gedanken im Kopf: seinen friedlichen Ruhestand wiederzufinden. Doch die Temperaturen im hohen Norden lassen ihn zu Eis erstarren, und am 2. Februar 1650 manifestiert sich eine Lungenentzündung. Nach tagelangen Unterredungen mit dem Leibarzt der Königin über das Für und Wider des Aderlasses verstirbt Descartes am 11. Februar im Morgengrauen, ohne Zeit zur Beichte gehabt zu haben.
Das gesamte Dasein des Philosophen konzentriert sich in dieser Episode: Seine letzten Worte „Nun, meine Seele, heißt es Abschied nehmen“ hätten die eines Gläubigen sein können oder die eines Gelehrten, der mit einem ausländischen Kollegen debattiert. Descartes hat den Glauben seiner Kindheit nie aufgegeben. Wissenschaft und Religion, dachte er, schließen sich nicht aus: Sie stützen und vervollständigen sich gegenseitig. Doch durch diese letzte Pirouette des Schicksals hat er es geschafft, bis zum letzten Atemzug den Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Glaubens am Leben zu halten. •
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

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