Yascha Mounk: „Netanjahu versucht offen, demokratische Prozesse einzuschränken“
Die Justizreform in Israel ist vorerst verschoben. Trotzdem haben erneut Zehntausende gegen die Pläne der Regierung demonstriert. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk erläutert im Interview, warum die Lage besorgniserregend, aber nicht aussichtslos ist.
Seit Januar gehen Menschen in Israel auf die Straße und protestieren gegen die von Premierminister Netanjahu geplante Justizreform. Ist das Ausmaß dieses Widerstands ein Novum für das Land?
Israel hat bereits große Volksmobilisierungen erlebt, aber die Themen waren andere: Demonstrationen für den Frieden oder nach der Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin im Jahr 1995 wären Beispiele. Aktuell allerdings protestieren Menschen gegen eine Regierung, die das demokratische Fundament des Landes schwächen möchte. In diesem Willen zur Verteidigung des demokratischen Systems sind die aktuellen Proteste in diesem Ausmaß meiner Meinung deshalb tatsächlich beispiellos.
Was ist an dieser Justizreform besonders problematisch?
Im Mittelpunkt der Proteste steht der Oberste Gerichtshof, der eine sehr wichtige Rolle im demokratischen System Israels einnimmt. Mehr noch als in den Vereinigten Staaten entscheidet dieser nämlich über zahlreiche grundlegende Fragen, die die Politik, das Militär und die Kultur betreffen. Die Rechte versucht seit Langem, die Rolle des Gerichtshofs zu beschränken. Ich selbst halte es in bestimmtem Maße für legitim, eine kollektive Diskussion über die Macht des Obersten Gerichtshofs zu führen. Aber was die Regierung jetzt vorhat, geht weit über dieses Maß hinaus. Denn angestrebt wird nicht nur die Einschränkung seiner Kompetenz: Es geht darum, ihn völlig machtlos zu machen – und gleichzeitig die politische Kontrolle über andere Teile des Justizsystems zu übernehmen. Dies ist ein Angriff auf das Prinzip der Gewaltenteilung und auf die institutionellen Grenzen der Macht der Exekutive.
Israel wurde lange Zeit als die einzige Demokratie im Nahen Osten angesehen. Ist diese Demokratie heute in Gefahr?
Die Frage der Demokratie in Israel muss man von zwei Seiten betrachten. Einerseits ist da die Frage des palästinensischen Landes und des Status der palästinensischen Bürger Israels. Seit Langem übt die Regierung Macht über Personen aus, die nicht vollständig in das politische System eingebunden sind, was den demokratischen Charakter des Systems fragwürdig macht. Andererseits ist da die Frage der Regierungsform an sich. Aus demokratischer Sicht steht heute der zweite Aspekt auf dem Spiel. Auf dem Spiel steht die Fähigkeit der israelischen Bürger, sich selbst zu regieren, ohne der Hegemonie eines Ministerpräsidenten zu unterliegen, der über fast alles entscheidet. In dieser Hinsicht ist die israelische Demokratie heute tatsächlich in Gefahr. Netanjahu versucht offen, demokratische Prozesse einzuschränken. Bisher ist ihm dies jedoch nicht gelungen. Die großen Demonstrationen zeugen davon, wie wichtig den Menschen in Israel ihre Freiheit ist, die Presse ist im Land immer noch frei und derzeit besteht auch kein akutes Risiko einer massiven Machtkonzentration. All diese Dynamiken sind global betrachtet also nicht außergewöhnlich.
Die autoritäre Verschiebung, die sich heute in Israel abspielt, ist ein Echo dessen, was in anderen Ländern geschieht …
In vielen Ländern haben sich in den letzten Jahren populistische Regierungen entwickelt, die die Wut, die Frustration und die Ressentiments eines Teils der Bevölkerung gegen die liberale Demokratie ausnutzen, um eine autoritäre Wende einzuleiten. Denken Sie an Orbáns Ungarn, Erdoğans Türkei, die USA zu Trumps Zeiten oder Bolsonaros Brasilien. Solche autoritären Auswüchse führen gleichzeitig überall zu kraftvollen Bewegungen, die gegen diese Angriffe auf die Demokratie protestieren. In einigen Staaten haben die Populisten gewonnen. In anderen haben sich die Gegner bislang erfolgreich gewehrt.
Sind Sie also optimistisch, was die Entwicklung der Situation in Israel angeht?
Kurz nach der Wiederwahl Netanjahus letztes Jahr sprach ich mit Kollegen und Freunden über die Situation im Land, wobei mir deren Besorgnis auffiel. Und auch wenn sie recht haben und die Lage ernst ist, sagte ich ihnen etwas, das ich auch meinen italienischen Freunden nach der Wahl von Giorgia Meloni sagte: Ob ein Populist eine breite und solide Mehrheit im Parlament hat oder ob er sich auf eine brüchige Mehrheit stützt und auf die Zusammenarbeit mit Verbündeten in einer Koalition angewiesen ist, kann einen großen Unterschied machen. Und die Mehrheiten sowohl in Israel wie auch in Italien sind brüchig. Deshalb ist meine Hoffnung, dass der Widerstand gegen jedwede extremen Maßnahmen effektiv sein wird. In den letzten Wochen haben einige Koalitionspartner sich geweigert, weiterzugehen, weil sie befürchteten, ihre Popularität für Netanjahus Pläne zu opfern. Dabei sind unter diesen einige, die in der Vergangenheit teils noch radikaler waren als Netanjahu selbst. Es ist durchaus möglich, dass die Koalition zerbricht, was zu Neuwahlen führen würde. Vielleicht wäre das eine Gelegenheit, um diese gefährliche Regierung loszuwerden. •
Yascha Mounk, ist Politikwissenschaftler und Associate Professor an der Johns-Hopkins-Universität. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift „Persuasion“ gegründet und schreibt u.a. für die „New York Times“, den „Atlantic“ und die „ZEIT“. 2022 erschien sein Buch „Das große Experiment. Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert“ (Droemer).