Die Jahrhundert-Philosophen
Sonderausgabe 34 - Herbst 2025Autoritäre Kräfte, falsche Wahrheiten und neue Kriege mögen heute an alten Gewissheiten rütteln. Aber für die älteste lebende Generation der Philosophie sind die derzeitigen Umwälzungen sicher nicht die ersten. Wie blicken sie, mit der Geschichte und ihrer Philosophie im Rücken, heute in die Zukunft? Was können wir von ihnen lernen?
Die neue Sonderausgabe des Philosophie Magazins befragt zehn Denkerinnen und Denkern, die der Welt und ihren Krisen seit Jahrzehnten philosophierend begegnen. Fast alle von ihnen wurden vor 1945 geboren. Sie sind Zeugen des Zweiten Weltkriegs und entwickeln ihre Ideen im Resonanzraum der Großereignisse einer neuen Ära. Sie suchen nach Auswegen aus geistigen Sackgassen und treten mit neuen Theorien an, um die Menschheit in ihrem Denken und Handeln zu verändern. Sie vereint ein robuster Optimismus: Trotz Rückschlägen geben sie die Versprechen von Aufklärung, Wahrheit, Vernunft, Fortschritt und Emanzipation nicht auf. Sie geben ihnen nur eine neue Form. Kann ihr Denken uns über die tiefen Umbrüche unserer Zeit hinwegtragen?
Die Persönlichkeiten, die in unserer Ausgabe zu Wort kommen, stellen natürlich eine Auswahl an Stimmen dar. Trotzdem wäre es falsch, hier Provinzialität zu vermuten. Vielmehr handelt es sich um philosophische Pioniere, die die Grenzen zwischen Kontinenten, Traditionen und Gattungen überschreiten, um ein umspannendes Denken zu formulieren. Womöglich können sie uns helfen, abermals die Brücke zur Zukunft zu schlagen.
Mit Gayatri Chakravorty Spivak, Peter Sloterdijk, Thomas Nagel, Hélène Cixous, Jürgen Habermas, Tu Weiming, Peter Singer, Slavoj Žižek, Donna Haraway, Alexander Kluge.
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Alle Texte in der Übersicht
1. Gayatri Spivak und die Dekolonisierung des Denkens
Gayatri Chakravorty Spivak: „Identität sollte nur dann als Waffe genutzt werden, wenn die andere Seite sie einsetzt“
Ihr Aufsatz Can the Subaltern Speak? hat die postkoloniale Theorie fundamental geprägt. Ein Gespräch mit Gayatri Chakravorty Spivak über eine Karriere zwischen Kontinenten, identitäre Verhärtungen und die Frage, welchen Widerstand es in den USA heute bräuchte.

Aufklärung als Gift und Arznei
Der Kolonialismus brachte nicht nur rohe Gewalt, sondern hinterließ Spuren im Geist der Kolonisierten. Nikita Dhawan erläutert, wie Spivaks Werk subtilen Formen der Entmachtung entgegentritt. Kann die Aufklärung dabei helfen oder ist sie als westliches Produkt abzulehnen?

2. Peter Sloterdijk und die Sphären der Menschheit
Der Atmosoph
Wie können wir es im Unendlichen aushalten? Indem wir es bewohnbar machen, so Peter Sloterdijk. Sein philosophisches Werk widmet sich dem Kleinen, Feinen und Fragilen, beseelten Räumen und gesellschaftlichen Stimmungen. Ein Besuch in Charlottenburg.

Sein und Haus
Peter Sloterdijk errichtet Denkgebäude aus Blasen, Schäumen, Zellen – und nimmt damit das Bauen der Zukunft vorweg.

Beseelung, Schutz und Steigerung
Die Weltgesellschaft lässt sich nicht steuern. Aber man kann das Driften lernen. Peter Sloterdijk erfindet Begriffe zur Navigation durch die Unsicherheit.

3. Thomas Nagel und das einzigartige Bewusstsein
Thomas Nagel: „Wir müssen auf zukünftigen moralischen Fortschritt hoffen“
Wie kaum einem anderen Denker ist es Thomas Nagel gelungen, die Spannbreite der Philosophie in den Blick zu nehmen. Seine Arbeiten reichen von Fragen des Bewusstseins über Ethik bis hin zu metaphilosophischen Überlegungen und bieten ein vielschichtiges Bild der Welt. Ein Gespräch über Nagels berühmten Fledermaus-Aufsatz, moralischen Fortschritt und philosophische Fragen, die bleiben.

Erkennt das Unmögliche
Einfühlungsvermögen, Objektivität, globale Gerechtigkeit – so erstrebenswert diese drei Dinge klingen: Lassen sie sich wirklich erreichen? Thomas Nagels Philosophie blickt hinter gängige Überzeugungen und Werte.

4. Hélène Cixous und das weibliche Schreiben
Medusas Macht
Um sich aus der patriarchalen Logik zu befreien, muss die Kraft der Frau einen Weg in die Sprache finden: Diese Einsicht ist wesentlich für das Werk von Hélène Cixous. Doch wie gelingt eine Betonung der Geschlechterdifferenz, ohne die Frau auf ein Wesen festzuschreiben? Ein Besuch in Paris bei einer Ikone der feministischen Theorie und Mitbegründerin der écriture féminine.

Dem Körper Gehör verschaffen
Als Denkerin der Unterwanderung gibt Hélène Cixous dem Ausgeschlossenen eine Stimme. Ihr Konzept der écriture féminine prägt Feminismus und Queer- Theorie bis heute.

5. Jürgen Habermas und die kommunikative Vernunft
Jürgen Habermas: „Die Bewusstseinslage ist ins Defensive umgeschlagen“
Wie erlebte er seinen Lehrer, Theodor W. Adorno? Welche Ratschläge für die junge Generation würde er heute formulieren? Und vor allem: Was bräuchte eine Politik, die wieder auf die Zukunft ausgerichtet ist? Ein Gespräch mit Jürgen Habermas.

Die streitbare Vernunft
Seit sieben Jahrzehnten interveniert, diskutiert und positioniert sich Jürgen Habermas in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Lässt sich auch für die Zukunft von ihm lernen? Josef Früchtl, der in den späten 1970ern Habermas’ Vorlesungen besuchte, blickt auf Werk und Leben eines einzigartigen öffentlichen Intellektuellen.

Einzigartigkeit und Erweiterung
2021 wurde in der deutschen Öffentlichkeit eine hitzige Diskussion um die Singularität des Holocaust geführt. Ist dieser mit anderen Genoziden vergleichbar? Welche Stellung sollte kolonialen Gewaltverbrechen in der Erinnerungskultur zukommen? Jürgen Habermas nahm damals Stellung im Philosophie Magazin.

Stephan Malinowski: „Die postkoloniale Deutung wird sich immer mehr durchsetzen“
Der deutsche Blick auf den Holocaust wurde auch von Habermas geprägt. Stephan Malinowski beleuchtet im Gespräch Habermas’ Interventionen in Geschichtsdebatten und mögliche Pfade künftiger Gedenkkultur.

6. Tu Weiming und die Schule des Menschseins
Tu Weiming: „Unser Gedeihen hängt vom Wohlergehen der Erde und der Geister ab“
Tu Weiming gehört zu den wichtigsten Neukonfuzianern der Gegenwart. Vertraut mit den geistigen Traditionen Chinas und des Westens, schlägt sein Denken eine Brücke zwischen den Welten. Ein Gespräch über seinen Weg zu Konfuzius, die Einheit von Himmel und Mensch und die Frage, was die Weltgemeinschaft von Konfuzius lernen kann.

Die drei Wellen des Konfuzianismus
Staatsideologie oder Kritikinstanz? Seit über 2500 Jahren vermittelt der Konfuzianismus Moral und Herrschaftswissen in China. In den letzten Jahren ist das Interesse an ihm wieder gestiegen.

7. Peter Singer und die Maximierung des Glücks
Peter Singer: „Soll ich sagen: Ich kann an alldem nichts ändern, ich fange jetzt an zu golfen?“
Wenige Philosophen haben mit ihrem Werk einen so unmittelbaren, spürbaren Effekt in der Welt wie Peter Singer. Er revolutionierte das öffentliche Verständnis von Tierschutz, Entwicklungsarbeit und Armutsbekämpfung. Ein Treffen mit dem Begründer des Effektiven Altruismus.

Provokation und Praxis
Peter Singer will Menschen zum Handeln bewegen und ethische Fragen auf einen rationalen Grund stellen. Dafür schreckt er nicht vor extremen Vergleichen und Folgerungen zurück, die an moralischen Grundfesten rütteln.

8. Slavoj Žižek und die Wiederentdeckung des Absoluten
Scheitern ist unausweichlich
Philosophie betreibt Slavoj Žižek zugleich mit Ernst, Humor und Leidenschaft. Manchmal geht er dabei so weit, dass andere sein philosophisches Projekt unterschätzen. Zu Unrecht, wie unser Autor zeigt, der Žižek in seiner Heimatstadt Ljubljana besucht hat.

Der unflätige Riese
Nichts ist so wertvoll wie der Weggefährte eines Philosophen, der geistig mit ihm Schritt hält und den theoretischen Haken folgt, die er schlägt. Robert Pfaller über Humor, Hegel und seine Freundschaft zu Slavoj Žižek.

9. Donna Haraway und das Miteinander der Arten
Donna Haraway: „Wir müssen lernen, mit dem Mehr-als-Menschlichen in Kontakt zu treten“
Donna Haraway inspirierte Generationen dazu, neue, kreative Arten der Koexistenz von Mensch, Natur und Technik zu entwerfen. Ihr Denken bewegt sich zwischen Thomas von Aquin, Science-Fiction und Hundetraining. Eine Begegnung unter Bäumen.

Fiktion und Wirklichkeit
Für radikale Perspektivwechsel braucht es neue Wörter. Dafür führt Donna Haraway Begriffe ein, die die Welt nicht nur besser erfassen sollen, sondern auch utopische Kraft haben.

10. Alexander Kluge und die Einbildungskraft
Glück und Eigensinn
Wer sagt, dass die beste Philosophie auf Abstraktion und Vernunft gründet? Alexander Kluge greift in seiner Kritischen Theorie auf ganz anderes zurück: Poesie, KI, Film, Musik, Dokumentarisches und Fiktionales. Unser Autor hat den ungewöhnlichen Universalkünstler in München besucht.

Kluge-Kollaborationen
Alexander Kluge ist nicht nur im Alleingang produktiv. Ebenso häufig entwirft, entwickelt, schreibt und filmt er mit anderen. Jonathan Meese, Lilith Stangenberg und Joseph Vogl erzählen von ihren Begegnungen mit einem besonderen Denker.
