Jürgen Habermas: „Die Bewusstseinslage ist ins Defensive umgeschlagen“
Wie erlebte er seinen Lehrer, Theodor W. Adorno? Welche Ratschläge für die junge Generation würde er heute formulieren? Und vor allem: Was bräuchte eine Politik, die wieder auf die Zukunft ausgerichtet ist? Ein Gespräch mit Jürgen Habermas.
Wenn ein junger Mensch, der vielleicht gerade seinen Schulabschluss gemacht hat, sich angesichts von Klimakrise, Populismus und digitaler Überwachung die Welt zu erschließen versucht, welches philosophische Werk würden Sie ihm oder ihr empfehlen? Wäre es eines aus dem Umfeld der Kritischen Theorie?
Ich würde keinen dieser zeitdiagnostischen Schnellschüsse empfehlen, sondern als Anstiftung zum Philosophieren die zweieinhalb Seiten empfehlen, die in Hegels Handschrift unter dem etwas irreführenden Titel des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus überliefert sind. Selbst wenn jemand – sagen wir eine junge Abiturientin – den Kontext dieser Zeilen nicht versteht, wird sie die transzendierende Kraft eines poetischphilosophischen Denkens spüren, das damals – wenige Jahre nach der Französischen Revolution – die Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin bewegt hat. Daraus sind ja philosophische und dichterische Werke hervorgegangen, die die Welt bewegt haben und noch bewegen. Wenn dann dieser philosophische Funke gezündet hat, würde ich ihr oder ihrem interessierten Freund Hegels verwirrende, aber in die richtigen Bahnen lenkenden „Jugendschriften“ zur Lektüre empfehlen. Am Ende werden die beiden die Begriffe von Freiheit und von Liebe, das heißt von der Gegenseitigkeit intersubjektiver Beziehungen überhaupt kennengelernt haben, die sie, in welche Richtung ihr eigenes Denken sie auch immer führen wird, nicht mehr vergessen werden.
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