Jürgen Habermas und Europa
Jürgen Habermas gilt heute als der wirkmächtigste lebende Philosoph deutscher Sprache. In seinem Essay erläutert Peter Neumann die habermassche Idee von Europa und zeigt, auf welch fundamentale Weise sich die Diskurstheorie des kommunikativen Handelns mit dem politischen Denken des großen Sozialphilosophen verbindet.
Heute ist Habermas zudem der Philosoph des gegenwärtigen Europas. Als einer der wenigen unbeirrbaren Beobachter der Gegenwart und Zeitdiagnostiker hat er seinen Fokus schon frühzeitig auf die europäische Frage erweitert: Welche Rolle konnte beziehungsweise durfte das vereinigte Deutschland im europäischen Einigungsprozess spielen? Welche realistische Utopie ließ sich mit dem Projekt Europa verbinden?
Europa ist für Habermas weit mehr als ein politisches Vorhaben, das gelingen kann – oder scheitern. Die Europäische Union ist ein historisch beispielloses Gebilde von geradezu urbildlichem Charakter. Als Narrativ lehrt sie verstehen, wie internationale Gemeinschaftlichkeit abseits nationalstaatlicher Alleingänge funktionieren könnte. Europa ist ein Versprechen auf Frieden, indem es den Krieg verunmöglicht. Bürger und Staaten – das ist die mit Blick auf die Europäische Union entwickelte Denkfigur – stehen als verfassungsgebende Subjekte einander gleichberechtigt gegenüber. Nicht der allmächtige Weltstaat, nicht die grenzenlose Weltrepublik ist das Ziel: Was immer auf supranationaler Ebene entschieden wird, geschieht nicht ohne Einwilligung der Staaten. Repräsentanten der Bürger treffen in der Generalversammlung auf Repräsentanten der Staaten – et vice versa. Wenn Europa scheitert, scheitert weit mehr als ein Staatenverbund, den manch einer mit der Chiffre „Brüssel“ nur allzu gern zu den Akten gelegt sähe, für die er sinnbildlich steht. Auf dem Spiel steht eine Idee – die Idee einer demokratisch verfassten Weltgesellschaft.
Dass hieraus weit mehr als nur Wunschdenken spricht, ergibt sich für Habermas aus den drängenden Problemen unserer Zeit. Noch nie ist eine Zeit so unübersichtlich gewesen wie heute, so anfällig für Konflikte ganz heterogener Art. Herausforderungen wie die weltweite Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte, Kriege und Zusammenstöße einander fremder Glaubens- und Lebensformen, Probleme wie der Klimawandel, die Entfesselung der Finanzmärkte und die immer weiter fortschreitende Digitalisierung stellen uns vor die Frage, wie Konflikte von solch bizarrer Unterschiedlichkeit überhaupt gelöst werden können, ohne nicht rücklings wieder zu neuen Konflikten zu führen. Im Gewand des europaweit wiedererstarkten Rechtspopulismus und weltweit wiederaufflammenden Nationalismus kommen darüber hinaus Zeitschichten zum Vorschein, die man – in diesem Ausmaß – für längst überwunden hielt. Die Geschichte ist zurück, und mit ihr der globale Handlungsbedarf.
Für eine lebendige Streitkultur
Die Idee einer demokratisch verfassten Weltgesellschaft findet bei Habermas ihre philosophische Grundlegung in der von ihm ausgearbeiteten Theorie des kommunikativen Handelns. Diese Theorie besagt, dass wir nur dann ernsthaft argumentieren, ja miteinander streiten können, wenn wir zugleich unterstellen, das Gespräch, das wir führen, werde vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments regiert. Jeder Diskurs hat Spielregeln. Dass aber ein überzeugenderes Argument einem weniger überzeugenden in der Suche nach der Wahrheit vorzuziehen ist, ist eine Voraussetzung, ohne die kein Diskurs ernsthaft geführt werden könnte. Nur unter der Bedingung, dass „gute“ Gründe zählen und dass wir überhaupt mit Gründen für eine Sache einstehen können, kann es eine lebendige Streitkultur geben, ob es sich dabei nun um unsere ganz alltäglichen Streitereien oder um den diplomatischen Interessenausgleich handelt.
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