Peter R. Neumann: „Der aufgezwungene Export von Freiheitsgedanken hat noch nie funktioniert“
Der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann hat ein Buch über die „neue Weltunordnung“ geschrieben. Wir haben mit ihm über den Abstieg des Westens, die Stärke Chinas und die Konturen einer neuen Außenpolitik gesprochen.
Herr Neumann, Was ist eine Weltunordnung und wie unterscheidet sie sich von der Weltordnung, die vorher geherrscht hat?
Viele Perioden in der Weltgeschichte hatten ein ordnendes Prinzip. In den letzten Jahrzehnten war das die Vorherrschaft des Westens und der liberalen Moderne. Diese ist jetzt ins Wanken geraten. Wahrscheinlich wird daraus irgendwann eine neue Ordnung entstehen, von der wir allerdings noch nicht wissen, wie sie aussieht. Erkennbar sind für uns nur die Faktoren, die zur Unordnung führen: Die Überschätzung und Naivität des Westens, durch die er seine Vormachtstellung innerhalb von nur 30 Jahren verloren hat. Beschleunigt wird dies vom Aufstieg Chinas, von der inneren Instabilität durch Populismus und vom Klimawandel, der nicht nur die Vorherrschaft des Westens bedroht, sondern die Existenz des gesamten Planeten.
Wie ist es dazu gekommen? Hat der Westen seine Vorherrschaft durch Fehlentscheidungen verspielt oder sind tiefliegende Strukturen dafür verantwortlich?
Ich glaube, dass es die Werte des Westens sind, die liberal-optimistische Moderne, die zum Sieg im Kalten Krieg beigetragen haben. Dieselben Werte führen nun zu seinem Abstieg. Den Kriegen im Irak und in Afghanistan lagen Fehleinschätzungen der eigenen Stärke zugrunde, Ähnliches gilt für den naiven Optimismus bezüglich des Finanzsystems. Der Westen hielt sich für unverwundbar, er dachte, dass er, egal was er tut, immer siegt.
Gibt es für die neue Weltunordnung historische Vorbilder oder ist das etwas völlig Neues?
Die Idee gibt es seit tausenden von Jahren. Das finden Sie schon bei den alten Indern oder Griechen. Die Pythagoreer hatten die Idee, dass Zivilisationen wie Organismen sind, die aufblühen und irgendwann eine Periode der Sättigung erreichen, in der die eigenen Werte zur Bedrohung werden. Dieser Prozess des Auf- und Abstiegs hat jedoch oft viele Jahrhunderte gedauert. Neu an der aktuellen Situation ist, dass alles viel schneller geht. Der Westen hatte 1990 seinen Höhepunkt erreicht, er schien unbesiegbar. Jetzt, nur 30 Jahre später, glaubt keiner mehr wirklich daran, dass er sich halten oder sogar weiter ausbreiten kann. Das westlich-demokratische System befindet sich in der Defensive, es gibt weniger Demokratien als vor 15 oder 20 Jahren. Es leben vielleicht gerade einmal 7 Prozent der Weltbevölkerung in vollen Demokratien, während eine autoritäre Moderne, wie sie China repräsentiert, auf dem Vormarsch ist. So schnell ist es in der Vergangenheit noch nie gegangen mit dem Abstieg.
Lässt sich der Untergang des Westens noch abwenden?
In gewissem Sinne bin ich da schon pessimistisch, weil ich glaube, dass dieser blinde Optimismus uns in der Vergangenheit nicht geholfen, sondern geschadet hat. Ich bin aber nicht der Meinung, dass der Niedergang des Westens etwas ist, das man einfach akzeptieren muss. Ich glaube auch nicht, dass es andere Systeme gibt, die für uns besser geeignet sind. Ich bin kein Oswald Spengler, der sagt, der Westen zerstört sich selbst und das ist gut so. Ich halte das westliche System eigentlich schon für das beste und glaube, dass es noch eine Chance hat, wenn man zu einer nachhaltigeren Moderne kommt, also einer Moderne, die vorsichtiger ist, ehrlicher, pragmatische und inklusiver. Dafür plädiere ich.
Wie ließe sich eine solche Erneuerung der liberalen Moderne in kluge Außenpolitik übersetzen?
Man muss aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Das bedeutet, dass man pragmatischer und realistischer wird und sich Gedanken drüber macht, ob die eigenen Ziele mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreichbar sind. Das Ziel des Westens in Afghanistan – das Land zu demokratisieren – war zum Beispiel unerreichbar. Man hätte besser die Finger davon gelassen. Man muss auch ehrlicher mit sich selbst sein und erkennen, dass der Westen nicht überall beliebt ist. Man ist in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass sich der Rest der Welt nach unserem System sehnt. Wie man im Irak oder in Afrika sieht, ist das jedoch überhaupt nicht der Fall. Speziell in Afrika ist das chinesische Entwicklungsmodell, das keine Versprechungen macht oder Forderungen stellt, sondern nur Geld zur Verfügung stellt, viel populärer und auch effektiver. Vielleicht sollten wir das nachahmen und erst einmal Unterstützung anbieten, in der Hoffnung, dass die Empfängerländer irgendwann auf den Geschmack von Freiheitsrechten kommen. Der aufgezwungene Export von Freiheitsgedanken hat noch nie funktioniert. Auch in einem anderen Punkt sollten wir ehrlicher sein: In der Vergangenheit hat man gesehen, dass es bei großen Restrukturierungen nicht nur Gewinner gibt, sondern auch Verlierer. Dem liberaldemokratischen Optimismus widerstrebt dieser Gedanke. Wir hören zum Beispiel, bei der Umstellung auf grüne Energie gebe es nur Gewinner – wir können nicht nur den Klimawandel bekämpfen, sondern auch ökonomisch für alle Leute einen Erfolg erzielen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es auch Verlierer gibt. Leute, die abgehängt sein werden, da sie in der Lausitz oder anderswo fossile Energien produziert haben und nicht mehr gebraucht werden. Man muss sich um diese Verlierer kümmern. Sonst tun es Trump und die Populisten.
Außenpolitik als nüchterne Ziel-Mittel-Abwägung – Sie klingen, in den Begriffen der internationalen Politik gesprochen, wie ein Realist. In Ihrem Buch setzen Sie sich jedoch vom Realismus ab. Worin besteht Ihre Kritik?
Meine Analyse folgt durchaus dem Realismus, das stimmt, aber meine Schlussfolgerung nicht. Die Realisten sagen, wir müssen weg vom Idealismus und nur noch in Interessenkategorien denken. Ich plädiere hingegen für eine interessengeleitete Analyse, die das Ziel verfolgt, die westlich-demokratischen Werten zu stärken. Denn der Westen ist eine Idee. Er ist keine Himmelsrichtung. Australien ist Teil des Westens, obwohl es auf der Landkarte im Osten liegt, weil es den gleichen Ideen folgt wie Kanada oder Europa. In der Außenpolitik geht es um die Bewahrung und – wenn es gut läuft – Ausbreitung dieser Werte. Deswegen darf Außenpolitik niemals nur Interessenpolitik sein. Wenn wir das tun, werden wir so wie andere Staaten, die nur ihre Machtposition verbessern wollen und kein Ideengerüst dahinter haben. Wenn der Westen nur noch interessengeleitet ist, dann ist er kein Westen mehr.
Wer ist der größte Herausforderer des Westens – das kriegerische Russland oder Chinas autoritäre Moderne? Oder etwas ganz anderes?
Ich glaube, wir haben es mit drei Hauptherausforderungen zu tun: China, dem Klimawandel und der inneren Instabilität des Westens. Deswegen habe ich auch kein reines außenpolitisches Buch geschrieben. Es gibt viele Bücher, die von Außenpolitik oder Polarisierung und Innenpolitik handeln. Ich finde, das gehört zusammen. Gegenüber Russland hat der Westen Fehler gemacht, die in der eigenen Ideologie wurzeln. Er hat an das Versprechen der Interdependenztheorie geglaubt, Handel erzeuge Wandel; wenn man enge Wirtschaftsbeziehungen mit jemandem hat, dann wird er so wie wir. Und wenn es in China Starbucks und McDonald‘s gibt, dann wird China so wie wir. Das ist eine typisch liberale, naive Annahme. Man konnte sich in den 90ern überhaupt nicht vorstellen, dass nicht die anderen von uns abhängig werden, sondern wir von ihnen. Aber genau das ist passiert in Bezug auf Russland und China, die immer autoritärer wurden, während wir immer abhängiger wurden.
Sind Moskau und Peking nur Unruhestifter, die die alte Weltordnung abwickeln, oder haben sie auch ein eigenes Modell anzubieten?
Russland ist keine Systemherausforderung. Dafür ist es wirtschaftlich zu schwach. Es kann Störungen betreiben – gerade in der europäischen Sicherheitsstruktur, aber die Geschichte des 21. Jahrhunderts wird nicht von Russland bestimmt, sondern von China. Wenn wir die liberale Brille für einen Augenblick absetzen, dann sehen wir in China eine große Erfolgsgeschichte. In den letzten 40 Jahren sind dort viele Millionen Menschen aus der Armut befreit worden, weshalb viele Chinesen mit ihrem System relativ zufrieden sind. Deshalb gibt es dort keinen Aufruhr, der nach Demokratie verlangt. Die Tatsache, dass sie ein Auto haben, ein sicheres Einkommen und ihre Kinder studieren können, sorgt zusammen mit Nationalismus und Überwachung für eine Loyalität, die wir uns nicht vorstellen können. China bietet eine echte Systemalternative zum liberalen Modell des Westens.
Sehen sie die Möglichkeit einer Mischform zwischen Chinas autoritärer Moderne und dem Westen oder läuft es auf einen Ausscheidungskampf wie im 20. Jahrhundert hinaus?
Ich glaube, dass China sehr viel erfolgreicher ist, sein eigenes System zu verbreiten, indem es anderen Ländern nicht vorschreibt, welches System sie haben sollen. Es ist ihm egal, ob es mit autoritären Regimes oder Demokratien zusammenarbeitet, es will einfach nur Stabilität. Ich glaube, es werden sich ganz unterschiedliche Systeme entwickeln, die alle abhängig sind von China. Das sind dann vielleicht solche Mischformen. Sie werden möglich, weil China nicht so doktrinär ist wie der Westen, was die Ausbreitung des eigenen Systems angeht.
Interessant ist, dass Sie bei den Hauptherausforderungen für den Westen eine nicht genannt haben, an der man noch vor wenigen Jahren nicht vorbeigekommen wäre, nämlich den Terrorismus. Was ist mit ihm passiert?
Ich habe nie geglaubt, dass der Terrorismus eine Hauptherausforderung war, zumindest nicht direkt, wohl aber die Reaktion darauf. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 hat der Westen 20 Jahre vergeudetet. Er hat sich in Konflikte verstrickt, wo unglaublich viel Geld und Blut geflossen ist und wo sehr, sehr wenig erreicht worden ist. Das hat den Westen von seinen eigentlichen Herausforderungen – China und dem Klimawandel – abgelenkt. Auch dies ist der Selbstüberschätzung geschuldet. In den 90ern waren wir so von uns selbst eingenommen und konnten uns nicht vorstellen, dass es überhaupt noch Leute gibt, die unser System nicht gut finden. Deswegen saß der Schock vom 11. September 2001 so tief. Viele Leute in den USA haben geglaubt, das sei jetzt der neue Kalte Krieg, und die Gruppe um Osama Bin Laden, die vielleicht 2000 Kämpfer umfasste, die neue Sowjetunion. Das war ein ganz großer Fehler, der Krieg gegen den Terror hat uns viel Zeit und Ressourcen gekostet.
Und er ist noch nicht zu Ende. Im Sommer erst wurde der Al-Kaida-Führer al-Sawahiri getötet. Findet da eine Fehlallokation von Ressourcen statt?
Zur Strategie der Amerikaner gehört es zu sagen, wer uns angreift, der muss wissen, dass er bis ans Ende seines Lebens von uns verfolgt wird, und egal ob es 10, 20 oder 30 Jahre dauert, wir kriegen euch. Das ist eine Warnung an alle, die es sich möglicherweise überlegen, Amerika auf ähnliche Weise anzugreifen. Es macht also schon Sinn, aber natürlich hat das auch damit zu tun, dass dieses Trauma vom 11. September 2001 bei den Amerikanern so tief sitzt. Und auch wenn die US-Truppen aus dem Irak und Afghanistan abgezogen sind, werden immer noch Ressourcen darauf verwendet. Obwohl seit Trump und Biden andere Prioritären herrschen – Asien und seit Februar auch Russland.
Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands und Europas in der Weltunordnung? Ist die „Zeitenwende“ eine erste Anpassung an das neue Umfeld?
Ich glaube, dass die „Zeitenwende“ richtig ist. Im außenpolitischen Denken wird oft vieles auf Amerika abgeladen, während sich die Europäer mitschleppen lassen. In meinem Buch versuche ich zu zeigen, dass die westliche liberale Moderne bei uns in anderer Weise genauso stark vorhanden ist – und verteidigt werden muss. Die Idee der Zeitenwende ist, dass Deutschland ein normales Land wird, das sich der eigenen geopolitischen Situation bewusst wird, seine Interessen verfolgt und es nicht hinnimmt, dass ein Land wie Russland die Grenzen verschiebt – wenn es notwendig ist, auch militärisch. Das ist für mich keine Militarisierung von Außenpolitik, sondern eine ganz normale geopolitische Haltung. Was muss nun passieren? Um die verschiedenen Herausforderungen zu bewältigen, müssen wir im Westen viel einiger werden. China und den Klimawandel kann kein Land, nicht einmal Amerika, allein bewältigen. Der gemeinsame Ansatz muss sogar über Europa hinausgehen und Amerika, Kanada und andere westliche Staaten einschließen. Europa ist immer unsere erste Adresse, und natürlich kann man, wenn man sich Amerika momentan anschaut, nur pessimistisch sein. Aber die einzige Möglichkeit, den negativen Pfad zu verlassen, besteht darin, dass man sich im Westen zusammenschließt und die gemeinsamen Interessen begreift. Nur dann hätte der Westen tatsächlich eine Chance, sich selbst zu erhalten. •
Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Er war 2014 Berater der USA bei den Vereinten Nationen und 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Sein Buch "Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört" ist bei Rowohlt erschienen.
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