Was ist feministische Außenpolitik, Frau Ruppert?
Seit Außenministerin Baerbock ihren Kurs als „feministische Außenpolitik“ bezeichnet hat, ist der Begriff in aller Munde. Die Politikwissenschaftlerin Uta Ruppert erläutert, worum es bei diesem Konzept in Wahrheit gehen sollte: nämlich um die Aushebelung einer patriarchalen Logik, die gerade im Krieg am Werk ist.
In Anbetracht der multiplen Krisen und Konflikte, vor allem des Krieges gegen die Ukraine, hört man in letzter Zeit immer lauter werdende Rufe nach einer konsequenten feministischen Außenpolitik. Kann Feminismus eine Antwort auf Krieg sein?
Wir befinden uns derzeit in einer paradoxen Situation. Im Krieg sind patriarchale Gewaltverhältnisse aufs Äußerste zugespitzt. Der Krieg gegen die Ukraine hat das sehr deutlich gezeigt: Krieg wird vor allem von Männern – gegen Männer und Frauen auf unterschiedliche Art und Weise – geführt. Selbst wenn Frauen als Soldatinnen kämpfen, sind die Bilder des Militärischen und der Militarismus tief von patriarchalen Vorstellungen und maskulinistischen Normen durchdrungen. Auf der anderen Seite ist die Nachkriegs-Außenpolitik der Vereinten Nationen weitgehend ohne feministische Verständigung ausgekommen. Auch der Krieg gegen die Ukraine ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung. Jetzt, im Moment der Eskalation, an eine feministische Außenpolitik als Allheilmittel zu appellieren, ist ein abwegiger Gedanke und ein falscher Anspruch. Wenn ein feministischer Anspruch ernst genommen wird, muss feministische Außenpolitik in ihrem Kern vor allem eine Anti-Gewalt-Politik sein und da stehen wir – mitten im Krieg – schon im Dilemma.
Seit Außenministerin Annalena Baerbock im April dieses Jahres im Bundestag verkündete, dass ihre Regierung „als erste deutsche Regierung eine feministische Außenpolitik verfolgt,“ ist das Konzept in aller Munde. Woher kommt es und was bedeutet es überhaupt?
Im Jahr 2014 hat die schwedische Regierung das Konzept als erste für sich in Anspruch genommen. Andere Länder haben relativ kurz darauf nachgezogen: Kanada, Frankreich, Mexiko, Spanien, Libyen … Das gibt schon einen Hinweis darauf, dass auch eine größere Spanne von Ideen und Vorstellungen damit verbunden wird. Schweden hat mit feministischer Außenpolitik vor allem eine konsequent menschenrechtliche Orientierung der Entwicklungspolitik gemeint, die Frauenrechte weit nach vorne stellt – im Verhältnis zu einer konventionellen Ausrichtung der Außenpolitik. Aus Schweden kommt auch die Idee der drei „R“, der auch die deutsche Außenpolitik folgt: „Rechte“, also besonders Frauenrechte; „Ressourcen“, also Ausstattung der Außenpolitik mit entsprechenden Mitteln zur Förderung von Frauenrechten; und „Repräsentation“ von Frauen, beispielsweise in den Botschaften. In der Bundesrepublik kommt zu den drei „R“ noch ein „D“ dazu, das für „Diversität“ steht. Es soll verdeutlichen, dass es um eine intersektionale Perspektive geht, die sich nicht nur auf Frauenrechte beschränkt, sondern auch Minderheitenrechte in jeder Hinsicht in den Vordergrund stellt. Die Idee der feministischen Außenpolitik ist nicht erst durch den Krieg aufgekommen, sie steht schon im Koalitionsvertrag – jedoch als „Feminist Foreign Policy“. Das hat damit zu tun, dass die Koalition sich nicht auf das Reizwort „Feminismus“ verständigen konnte – der Anglizismus klang offensichtlich weniger herausfordernd. Die Außenministerin nutzt den Topos bewusst als Argument zur Herausforderung in der Debatte, einerseits um frauenpolitische Interessen zu markieren und andererseits, weil es ihrem grundsätzlichen Anliegen einer wertebasierten Außenpolitik zuspielt.
Warum sind „feministische“ Perspektiven in der Außenpolitik wichtig?
Sie sind in allen Politikfeldern von Bedeutung, in der Außenpolitik sind sie aber sehr viel weniger repräsentiert. Das hat mit ihrer Strukturiertheit zu tun: In der Außenpolitik werden die großen Themen der internationalen Politik, einerseits Krieg und Frieden, die Idee der nationalen Sicherheit, andererseits die Fragen des internationalen Handels, d.h. die wirtschaftlichen Interessen verhandelt. Der Homo oeconomicus wird in der Geschichte der Philosophie genauso männlich konstruiert wie Kriegsfähigkeit und Kriegertum. Dass diese extrem maskulinistische Domäne irgendwie feministisch gedacht werden muss, ist in der Diskussion der transnationalen Feminismen nicht neu, aber absolut keine Normalität in der internationalen Politik.
Im Iran findet gerade ein Aufstand statt, der explizit von Frauen angeführt wird und die Freiheit der Frauen in den Vordergrund stellt. Andererseits ist Deutschland trotz der Sanktionen Irans wichtigster Handelspartner in der EU und die Verhandlungen über das Atomabkommen nehmen gerade erst wieder Fahrt auf. Wie geht man mit einem solchen Interessensdilemma um?
Außenpolitik ist immer eine Interessenabwägung. Den Moment des Zögerns in der Bundesregierung, der Annalena Baerbock vorgeworfen wurde, habe ich daher verstanden. Wir leben in einer derart fragmentierten, von Widersprüchen und unvereinbaren Interessen durchzogenen Welt, dass die Frage, was in jeder einzelnen Situation das Gute ist, sich nicht immer leicht beantworten lässt. Es gibt keine einfachen Interessenskonstellationen, in denen man vom ersten Moment an weiß, wer die Guten und die Bösen sind. Noch einmal zu einem Atomabkommen zu gelangen, ist ein wertvolles Gut in der Welt, in der wir leben. Daher finde ich es angemessen, sich einen Moment zu nehmen, um zu überlegen, was in der aktuellen Situation zu tun ist. Feminismus hat nicht nur ein Interesse – Anti-Atom-Politik ist auch feministische Politik. Natürlich ist es dennoch absolut wichtig und notwendig, die Proteste der Frauen auf jede mögliche Art und Weise zu unterstützen. Wenn wir Glück haben, werden die Proteste am Ende wirklich als die Revolution der Frauen im Iran in die Geschichte eingehen – und das wäre mit das großartigste, was ich in der Geschichte feministischer Politik erleben durfte. Doch der starke Fokus der Debatte auf den Iran birgt auch eine Falle: Die Unterstützung der fernen Frauen im Iran zu fordern, ist aus deutscher Perspektive verhältnismäßig „einfach“. In einem postkolonialen Weltkontext ist das ferne Andere sehr viel leichter mit feministischen Ansprüchen zu belegen als beispielsweise die Politik in Italien, Polen, Ungarn und in der NATO. Ich bin gespannt, was die feministische Außenpolitik etwa zu antifeministischen Entwicklungen der neuen Regierung in Italien zu sagen haben wird.
Direkt zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine ist dessen vergeschlechtlichte Dynamik deutlich geworden: Frauen und Kinder fliehen, während Männer im Land bleiben und kämpfen müssen. Doch es gab auch Versuche, diese Bilder zu unterwandern: Frauen, die sich mit Kalaschnikows ablichteten und fliehende Männer. Ist Kriegslogik per se patriarchal?
Die Frage hat schon in den 1990er Jahren die Debatten über feministische Perspektiven in den internationalen Beziehungen beschäftigt – und schon damals wurden kontroverse Antworten darauf gegeben. Ich würde sagen: Ja, Kriegslogik ist immer patriarchal. Einem kriegerischen Denken muss immer ein Freund-Feind-Schema zugrunde liegen. Wenn der Feind nicht als das Andere konstruiert wird, wie will man ihn denn erschießen? Dieses extrem dichotome Denken ist in unserem westlichen Denken immer geschlechtlich konnotiert. Die Einteilung in Freund und Feind, Innen und Außen, Gut und Böse, geht mit allen möglichen Formen der Polarisierung gesellschaftlicher Verhältnisse einher – rational versus emotional, heldenhaft versus beschützenswert; mit dem Soldatentum der Männer und dem Schutzbedürfnis der Frauen als den Müttern der Nation, die für die Reproduktion des Lebens und damit für den Fortbestand der Nation zuständig sind. Ann Tickner, eine der ersten Feministinnen, die vergeschlechtlichte Muster in der internationalen Politik analysiert hat, sah die Lösung des Problems darin, dass mehr Frauen ins Militär gehen müssen. Aber zu glauben, dass wir das Problem des binären Denkens in den Griff bekommen, indem wir einen einzelnen Bereich der Gesellschaft quotieren, ist in meinen Augen eine Illusion. Polizei, Justiz, Gefängnisse, Grenzpolitik – all dies sind Bereiche, in denen es jede Menge Geschlechterungerechtigkeit gibt. Bevor wir Geschlechtergerechtigkeit nicht als gesellschaftliches Organisationsprinzip realisiert haben, das heißt auch jegliche Innenpolitik geschlechtergerecht organisieren, kann ein quotiertes Militär wenig gegen den Patriarchalismus des Krieges ausrichten. Auch wenn wir uns Krieg jenseits von Geschlechtergrenzen vorstellen, wenn Frauen sich bewaffnen, selbst wenn das Militär wie in Israel paritätisch besetzt ist, ist das dichotome Denken grundlegend. Am Anfang des Krieges gegen die Ukraine haben wir noch gesehen, wie die Menschen den ersten jungen russischen Soldaten, die mit Panzern durch die Dörfer gerollt sind, Essen gegeben haben und sie aufforderten, wieder nach Hause zu gehen – bis sich die Gewalt zugespitzt hat. Heute gibt es bis in die intellektuelle Linke in der Ukraine eine völlige Ablehnung der Kooperation mit russischen Gruppen oder Organisationen, ganz gleich wie regimekritisch sie sind. Die Vorstellung, dass Friedenskontakte nach Russland geknüpft werden könnten, scheint völlig unmöglich. Die Konstruktion des Anderen ist unumgänglich, um Krieg führen zu können.
„Feministisch oder militärisch“ sind auch wieder Dichotomien. Muss eine feministische Politik per se antimilitaristisch bzw. pazifistisch sein?
Nein. Seit den antikolonialen Befreiungskämpfen hat es international zurecht viel feministische Unterstützung bewaffneter Befreiungsbewegungen gegeben, die Unterstützung der SWAPO in Namibia und des ANC in Südafrika sind nur die jüngsten Beispiele. Auf der anderen Seite gab es in all diesen Kriegen und Bewegungen jede Menge sexualisierte Gewalt und Geschlechterungleichheit – egal, in welcher Position Frauen repräsentiert waren. Manchmal hat es geklappt, dass sich feministische Kräfte aus dem Befreiungskampf heraus entwickelt haben, etwa am Anfang des Friedensprozesses in Südafrika. Doch in vielen anderen Fällen, etwa in Nicaragua, haben sie nach dem Krieg fast überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass feministische Politik immer pazifistisch sein muss. Sie kann durchaus den Einsatz von Gewalt als ultimatives Mittel rechtfertigen. Aber sie muss per se antimilitaristisch sein. Das Militärische in all seinen Dimensionen – die systematische Gewaltanwendung, die Disziplinierung, die notwendige Hierarchisierung – ist für mich nicht in einer Form zu denken, die eine Dimension von „Care“ in den Mittelpunkt stellt. Den Begriff der menschlichen Sicherheit dagegen, der in der jüngeren Debatte um feministische Außenpolitik oft positiv ins Zentrum gerückt wird, halte ich für problematisch.
Warum?
Das gute Leben in Sicherheitsterminologien zu fassen, ist ein Widerspruch in sich. Dabei schwingt die problematische Idee des 21. Jahrhunderts nach 9/11 mit: Sicherheit vor terroristischen Anschlägen, vor Übergriffen der feindlichen Anderen im öffentlichen Raum. Die Idee menschlicher Entwicklung wird damit versicherheitlicht und in einen Rahmen eingespannt, der einerseits zum durchaus umstrittenen Konzept der humanitären Interventionen und anderseits zu militärischer Grenzsicherung führt. Noch in den 90er-Jahren war in der feministischen Diskussion stattdessen von „livelihoods“ die Rede. Auch in der internationalen feministischen Debatte wurde gutes Leben natürlich als eine Form von sicherem Leben besprochen, aber vor allem als eines, das die Verwirklichung der Bedürfnisse der Menschen auf eine gute und gut aufeinander bezogene Art und Weise ermöglicht. Für mich steht eine feministische Konzeption schon allein deswegen im Widerspruch zu einer militaristischen, weil eine der Kernanforderung für ein gutes Leben die Freiheit von Gewalt und von Bedrohung von Gewalt ist. Aber das können wir nur erreichen, wenn es uns gelingt, ein aufeinander bezogenes Leben, ein Leben in Netzwerken, in Beziehungen zu denken und zu organisieren. Dafür steht ein progressiver, anspruchsvoller „Care“-Begriff. Noch lieber würde ich hier den Solidaritätsbegriff bemühen: Es geht um solidarische Lebensweisen, solidarische Weltverhältnisse, die gutes Leben für möglichst viele Menschen ermöglichen. Doch das erfordert Umverteilung, Restrukturierung von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen.
Zumindest zeigt eine feministische Außenpolitik gewisse Missstände auf und gibt einer Kritik an patriarchalen politischen Strukturen eine größere Bühne. Wie kann man also aus dem, was wir haben, das Beste machen?
Es ist tatsächlich bisher schon gelungen, in der deutschen Debatte eine neue und andere Form von Aufmerksamkeit herzustellen. Das Thema ist nun auch bei uns „in der Welt“. Die taz hat letzte Woche darüber berichtet, dass laut einer Studie der Körber Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 60 % der Menschen noch nie von feministischer Außenpolitik gehört haben. Sie haben das als Misserfolg gedeutet. Man könnte es auch andersherum lesen: Nur 60 % haben noch nie davon gehört, was heißt, dass das Konzept bei 40 % der Bevölkerung angekommen ist. Das ist mehr als nur ein symbolischer Erfolg. Wir alle wissen, dass gesellschaftliche Veränderungen langsam sind. Annalena Baerbock ist es gelungen, den Deutschen Bundestag immer wieder damit zu beschäftigen und eine politische Rhetorik zu schärfen, die es so noch nicht gab. Die Hoffnung ist, dass daraus an bestimmten Stellen auch politische Reaktionen folgen und Ressourcen fließen. Anderseits finde ich die Thematisierung nicht einfach immer nur gut und auch nicht immer nur im feministischen Interesse – zumindest in meiner Vorstellung von Feminismus als herrschaftskritischer Perspektive. Indem der Feminismus in dieser Perspektive auf ein Gleichheits- und Gleichstellungsanliegen begrenzt wird, werden ihm die herrschaftskritischen Zähne gezogen. Die Grünen machen schon lange keine Politik mehr, die Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich in Frage stellt. Das führt zu einer sehr breitenwirksamen Verharmlosung des Feminismusbegriffs und der feministischen Perspektive. In Die List der Geschichte argumentiert Nancy Fraser, dass die Integration bestimmter feministischer Anliegen und Erfolge den Neoliberalismus und seine Formen von Ungleichheit und Ausbeutung immer wieder stabilisiert haben. Indem bestimmte Perspektiven integriert werden, immunisiert sich das politische System gegen massivere Kritiken und Veränderung. Das ist ein Risiko, das auch in der Feministischen Außenpolitik angelegt ist, wenn sie sich zu einer Praxis entwickelt, die hier ein bisschen mehr Frauenrechte, dort ein bisschen mehr Thematisierung und überall ein bisschen mehr Gleichstellung einstreut. Dadurch wird eine viel grundsätzlichere Auseinandersetzung eher verhindert als vorangetrieben. Und damit ist der Hoffnung auf weiterreichende Veränderungen, die an systemische Aspekte heranreichen, kein Dienst erwiesen. Feministische Außenpolitik muss, wenn sie ernst gemeint ist, transformatorische Erfolge erbringen. Sie darf nicht nur thematisieren, sondern sie muss Gesellschaftsverhältnisse im Sinne von mehr Gerechtigkeit verändern.•
Uta Ruppert ist Professorin für Politikwissenschaft und politische Soziologie mit dem Schwerpunkt globaler Süden (unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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